Heute Nacht, ab 2h30 (live bei SPORT1 US) wird in Glendale der Champion der College-Football Saison 2015/16 gekürt. Das Matchup lautet #1 Clemson Tigers (14-0, Sieger ACC) vs. #2 Alabama Crimson Tide (13-1, Sieger SEC). In den Vereinigten Staaten gilt es als erstes Landesmeisterschaftsfinale seit Äonen, in dem wirklich ein Newcomer (Clemson) das alteingesessene Establishment herausfordert.
Die Clemson University hat zwar viel Tradition im College-Sport und im 80.000 Zuschauer fassenden Memorial Stadium („Death Valley“) auch ein Stadion um in den Kreisen der großen Programme zu verkehren, aber nicht auf dem sportlichen Niveau, auf dem du mit harten Nippeln einer University of Alabama begegnen könntest und um die schicke Dame von nebenan buhlen kannst.
Clemson war 1981 mal National-Champion, ließ kurzen Erfolgsstrecken aber immer wieder lange Dürreperioden folgen und erspielte sich somit den Ruf des ewigen Verlierers, der sich auch in lichten Jahren immer den einen oder anderen unnötigen Stolperer gönnte um nicht in die Elitekreise aufsteigen zu müssen („Clemsoning“).
Das änderte sich mit der Beförderung von Dabo Swinney, der 2008 vom Interimstrainer zum Head Coach befördert wurde und seither mit seiner energetischen Art in kleinen Schritten, aber stets vorwärtsorientiert, ein Powerhouse aufgebaut hat. Swinneys Erfolgsrezept Nummer 1: Recruiting.
Swinneys Recruting-Jahrgänge sind stets unter den Top-10, obwohl die Conference ACC als eher bieder gilt und die Kleinstadt Clemson weder viel Party noch viel Tradition aufbieten kann. Swinney fokussiert sich mit seinem Recruiting auf North und South Carolina, Georgia und Florida – nur 12 der fast 100 Spieler im Kader kommen von außerhalb. Clemson gilt in den genannten Gebieten als dominierende Recruiting-Macht.
Das zweite Geheimnis Swinneys: Seine Moves auf Offensive und Defensive Coordiantor in den letzten Jahren waren Goldgriffe. Sowohl OffCoord Chad Morris (2011-2014) als auch DefCoord Brent Venables (seit 2013) schlugen voll ein. Venables hat die Defense wieder in die Spur gebracht. Morris revitalisierte ab 2011 die mausetote Offense und gilt als Vater der heutigen Spread-Offense. Morris verließ die Uni zwar vor einem Jahr um seine eigene Headcoach-Karriere zu lancieren, aber seine Ideen leben weiter.
Clemson stellt heute die vielleicht kompletteste Mannschaft im Lande auf, mit dem besten Quarterback und zwei hervorragenden Reihen an der Anspiellinie. Das erschreckende ist vielleicht sogar, dass für diesen Kader 2015 sogar zu früh kommt: Viele der Leistungsträger sind Sophomores und Juniors, die nächstes Jahr zurückkehren. Der Zyklus der Mannschaft war eigentlich darauf ausgerichtet, dass 2016 das große Jahr wird.
Für Alabama ist jedes Jahr das große Jahr. Hier werden Perfektion und Meisterschaften erwartet. Head Coach Nick Saban hat über die Jahre eine Dynastie geschaffen, an deren Überlegenheit man sich schon soweit gewöhnt hat, dass alles unter der Finalteilnahme als Enttäuschung gewertet wird.
Aber Saban hat auch an Stellschrauben gedreht, versucht, Alabama weiterzuentwickeln. Sozusagen das Stillstand-ist-Rückschritt-Phänomen zu bekämpfen, und Alabama ist damit gut genug gefahren, dass man auch diesmal wieder um den Titel spielt. Allerdings ist man seit der Pleite gegen Ole Miss im September vom ganz krassen Spread/Speed Trend abgegangen und spielt nun wieder traditioneller, nutzt verstärkt seine O-Line und Runningbacks.
Wenn Clemson den Ball hat
Clemsons Spread-Offense ist um den großen Star des heutigen Endspiels gebaut: QB #4 Deshaun Watson. Der sehr mobile Watson ist die Schlüsselfigur in der heutigen Partie, nicht zuletzt, weil Alabamas Verteidigung sich in den letzten Jahren nur gegen einen Typ Offense verletzbar zeigte: Spread-Offenses mit laufstarken Quarterbacks. Watson ist ein fantastischer Scrambler und ein hervorragender Werfer, dem einzig und allein der letzte Zacken Schärfe bei tiefen Bällen abgeht.
Idealerweise brauchst du gegen Alabama aber mehr als deinen QB. Du brauchst Entlastung durch ein reguläres Laufspiel, und Clemson kann diesbezüglich RB #9 Wayne Gallman hinter einer starken Offense Line über die Mitte schicken. Und Clemson hat in WR Artavis Scott einen Wideout mit Option, die Defense in die Länge zu ziehen.
Alabamas große Stärke in der Defense ist die Front-Seven gegen das Laufspiel. DT #86 A’Shawn Robinson, DE Jarren Reed und LB Reggie Ragland gelten als monströse, zukünftige 1st-Rounder, die zu umlaufen ein hehres Ziel ist. Aber Alabama hat nicht mehr die bestbesetzte Secondary im Lande. Ziehst du mit deiner Spread-Offense die Verteidigung auseinander, isolierst du deine Cornerbacks, und du kannst nicht mehr jedem Hilfe durch einen zusätzlichen Safety geben.
Trotzdem gilt es als unmöglich, gegen Alabama mehr als einen oder zwei „lange“ Drives mit vielen Snaps zu spielen. Es wird also auch Big-Plays brauchen, und hier ist die Frage, ob Clemson ohne seinen suspendierten Burner Deon Cain genügend Speed auf das Feld bringt.
Alabama ist meisterhaft darin, den Gegner eindimensional zu machen. Schafft es Alabama, Clemsons Laufspiel komplett zu eliminieren und QB Watson häufig zum Werfen zu zwingen, wird es zappenduster um Clemson. Dieses Szenario ist nicht unwahrscheinlich. Auf der anderen Seiten aber ist auch anzumerken, dass Alabama noch die ganze Saison eine so ausgeglichene Offense mit einem so schwer zu neutralisierenden Quarterback gesehen hat.
Wenn Alabama den Ball hat
Über Alabamas Change-Management habe ich schon am Freitag geschrieben: Crimson Tide ist nicht mehr die Maschine, die 80% der Zeit über den Gegner läuft. Unter dem OffCoord Lane Kiffin hat man sich in den letzten beiden Jahren etwas diversifiziert: Ein paar Elemente von Spread, ein paar Elemente von mehr Speed. Trotzdem bleibt das Laufspiel der Dreh- und Angelpunkt der Offense, und somit auch der 115-Kilo Bomber RB #2 Derrick Henry, der in den ersten 14 Saisonspielten über 2000yds erlaufen hat und noch vor Deshaun Watson die begehrte Heisman-Trophy abgestaubt hat.
Den massiv gebauten Henry zu stoppen, wird Ziel Nummer 1 jedes Alabama-Gegners sein, denn läuft Henry in 40 Carries zu 200 oder mehr Yards gegen dich, bist du eh verloren. Also ist die Strategie aller Bama-Gegner, das Spiel in Richtung QB Jake Coker zu verlagern.
Coker hat zwar im Lauf der Saison eine sehr gute Entwicklung genommen, und vor allem auch im Semifinale gegen Michigan State eine große Vorstellung abgeliefert, aber mehr als ein solider Verwalter ist der Mann nicht. Ein Comeback mit rattenscharfen Würfen in eindimensionaler Offense – mit Coker undenkbar.
Was Coker jedoch schon oft bewiesen hat: Tiefe Pässe hat er drauf. Und Alabama bietet in WR Calvin Ridley ein echtes deep threat für die großen Raumgewinne auf. Wendest du also zu viele Mittel auf, um die „Box“ gegen Henry vollzustellen, kann dich die Combo Coker/Ridley zum 50yds-TD verbrennen.
Clemson hat zumindest auf dem Papier die Mittel um Alabamas Offense auf Augenhöhe zu begegnen: Die Defensive Line ist eine einzige Wucht und zerlegte im Halbfinale Oklahoma selbst mit einem verletzten DE #90 Shaq Lawson (Lawson ist heute wieder einsatzbereit, ein zusätzliches Plus). In der Secondary gibt es mit CB Mackensie Alexander und dem famosen Safety-Pärchen T.J. Green und Jayron Kearse die Leute, die die kurzen Würfe zustellen können und auf tiefen Passrouten zumindest dafür sorgen, dass sie nicht meterweit offen sind – und dann muss ein Coker schon seine Top-Class Würfe aufbieten.
So viel zum Standard.
Es gibt noch einen X-Faktor im „chinesischen“ OffCoord Lane Kiffin: Kiffin hat sich als Meister des Plagiats erwiesen. Er hat z.B. alte Michigan-State Spiele studiert und Plays übernommen, die von früheren Spartans-Gegnern mit großem Erfolg ausgeführt wurden. Chris Brown von Smart Football hat am Wochenende darüber geschrieben. Das Wall-Street Journal hat sich schon letzte Woche Plays angeschaut, bei denen Clemsons Defense verwundbar war – und die heute möglicherweise von Kiffin wie die Karnickel aus dem Zylinder gezaubert werden.
Ausblick
Spannende Angelegenheit. Alabama ist der große Name und als SEC-Champion ein „logischer“ Favorit, aber die SEC 2015 ist nicht mehr die alle überstrahlende Conference früherer Tage. Alabama ist in den Wettbüros mit 7 Punkten favorisiert, aber fast alle Advanced-Metrics sehen eine ausgeglichenere Partie. In der Tat kann es darauf ankommen, welches Team die Mis-Matches des Gegners effizienter ausnutzt.
Dann sind natürlich Turnovers immer ein massiver Faktor: Alabama ist hier deutlich effizienter, während Clemsons Offense hie und da etwas locker mit dem Bällchen umgeht. Feldposition ist immer ein Faktor: Sagen wir, Clemsons Laufspiel hat Probleme in die Gänge zu kommen und muss anfangs häufig schnell punten. Alabama wird in diesem Szenario schnell die Oberhand gewinnen und über kurz oder lang gegen eine müde Defense seine Drives zu Ende spielen.
„Drives zu Ende spielen“ ist auch ein Stichpunkt für Clemson, das in der ersten Halbzeit des Semifinals gegen Oklahoma aus fünf Drives in Gegners Platzhälfte nur 16 Punkte machte. Gegen Bama ist das zu wenig.
Auf der anderen Seite hat Alabama weder eine so komplette Offense noch eine so komplette Defense gesehen. Alabama hat Vorteile in Sachen Laufspiel und Defensive Line, aber alle anderen Matchups sehen zumindest ausgeglichen aus, mit einem klaren QB-Vorteil bei Clemson.
Es ist selten eine gute Idee, Alabama anzuzweifeln, aber mit dem Risiko, morgen früh als kompletter Idiot dazustehen: Ich gehe hier mit dem Außenseiter. Clemson wird Alabamas Offense zum Passspiel zwingen und mit Watson an der Spitze genügend Punkte auf das Tablett zu legen um einen sensationellen zweiten Landesmeistertitel einzufahren.
Hier noch eine Latte an Links zur vertiefenden Analyse dieser Partie:
- Team Stats und individuelle Statistiken (S&P)
- Analyse Offensive und Defensive Lines (Bill Connelly)
- Analyse der Big Plays (Bill Connelly)
- Analyse von QB Deshaun Watson (SB Nation)
- Drei Fragen zum Spiel (WSJ)
- Podcast-Vorschau (Solid Verbal)
- Seventh Day Adventure (Football Outsiders)
Go Tigers!
Ganz große Vorschau, danke dafür und für die ganze Saison. Ich drücke auch dem Außenseiter die Daumen, aber wie man College Football so kennt wird Bama in der ersten Halbzeit ganz langsam das Blut aus den Tigers saugen und dann ab dem 3. Quarter die Kontrolle auch in Points übernehmen und mit 15 gewinnen.
Clemson hat ähnlich viel star Potenzial, aber Bama hat die Tiefe. Da kann auch mal ein Starter ausfallen, das kompensieren die locker. Wenn Bama früh die Kontrolle über die Lines übernimmt, ist das Spiel over denn dann walzt ab dem 3.Q Henry drüber und Clemson wird eindimensional.
Einzige Hoffnung: Der Heisman Fluch 😉 Aber sogar hier hat der einzige Bama Heisman Winner bisher (Mark Ingram 2009) und Vorgänger von Henry den Trend gebrochen und als einziger Heisman Sieger auch den National Title geholt.
Ich hoffe wirklich, dass ich falsch liege. obwohl ich Bama und die Arbeit dort sehr schätze. Aber CFB bräuchte ein bisschen Abwechslung.
Was hat Deon Cain verbrochen und wie lange wurde er suspendiert?
Interessanter Artikel. Mutig, entgegen allem auf Clemson zu setzen. Man darf gespannt sein.
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@Frank: Hat gegen den Team-Kodex verstoßen, während sich Clemson in Miami auf die Orange Bowl veranstaltet hat. Man kann sich dazudenken, was.
Außer Cain waren noch andere Teamkollegen betroffen.
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