Nur wenn es um College Football geht, glaubt der Amerikaner, dass der Tod einer Großmutter und Freundin einen 22-jährigen zu Höchstleistungen treibt und dass der Wille trotz unübersehbarer Schwächen Berge versetzen kann. Die NFL ist die Profisportliga, in der der hochwertigste Football geboten wird, aber College Football ist die wahre Religion – eine Welt voller bizarrer Sitten, unüberwindbarem Glauben und Rucksäcken vollgepackt mit Tradition.
College Football ist ein verwirrender Sport mit geheimnisumwobener Geschichte unter dem Deckmantel von höherer Bildung, der Spannungsbogen zwischen Teenies und Erwachsenen – gespielt als halbprofessionellem Football an Institutionen mit hehren Grundsätzen und fragwürdiger moralischer Integrität. So kann man das großartige Buch „Season of Saturdays – A History of College Football in 14 Games” zusammenfassen.
Geschrieben mit viel Liebe hat es Michael Weinreb, den wir auf diesem Blog bereits kennen – einer meiner Lieblingsautoren. Weinreb, aufgewachsen einen Steinwurf entfernt vom Campus der Penn State University – der am Ende zwiespältigsten aller Hochschulen – schreibt in diesem Buch über das Pro und Contra des College Footballs als Amateursport, schön austariert zwischen Befürwortern und Kritikern des Systems.
Das Buch ist ein Zwiegespräch zwischen der geschichtlichen Aufarbeitung des Sports und Weinrebs persönlichen, durchaus gespaltenen Gefühlen selbigem gegenüber, jeweils sauber getrennt durch Subkapitel innerhalb der 14 Hauptkapitel, die sich mit den weitreichendsten Spielen der College-Historie beschäftigen. Das Geschehene am Feld wird dabei nur kurz angeschnitten. Viel wichtiger für Weinreb ist der Blick über den Seitenrand hinaus – ja über die Mauern der Stadien hinaus, auf die Straßen, in die Häuser der Leute bis hoch ins Weiße Haus.
Es mag oft so aussehen, als ob der heutige, von Multimillionenverträgen dominierte Sport nichts mehr mit den Wurzeln in der Ivy League in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu tun hat. Doch Weinreb arbeitet auf faszinierende Weise die unbeweglichen Konstanten im College Football heraus.
Die öffentliche Meinung zu beeinflussen, war schon zu Knute Rocknes Zeit an der Notre Dame University Anfang des 20. Jahrhunderts, der ersten Supermacht des Sports, entscheidend – ebenso wichtig wie beim Aufstieg der jüngsten Supermacht, Jimmy Johnsons Miami Hurricanes in den Achtziger Jahren. Politik mixes Sports – es gibt keinen Sport, der derart Hand in Hand mit der Entwicklung der öffentlichen Meinung gegangen ist.
Das wichtigste Instrument war dabei „Das Argument“. College Football spielte bis vor wenigen Jahren seinen Meister jeglicher Logik entbehrend nicht über ein Playoff oder Endspiel aus, sondern wählte seinen Champion über eine Abstimmung – die Fassade war stets wichtiger als das Resultat am Feld. Deshalb spielte Notre Dame 1966 auf Remis um den Titel zu holen – und deswegen schenkten die Wähler in den 1990ern der Nebraska-Legende Tom Osbourne den Titel: Weil sie glaubten, dass er sich via Karma den Titel in der Vergangenheit verdient hatte.
Doch „Das Argument“ ist keine Kritik von Seiten Weinrebs, genauso wenig wie er keine Kritik, sondern vielmehr die Notwendigkeit der glamourösesten aller Football-Universitäten, Notre Dame, übt – denn keine Mannschaft schrieb eifriger an der Legende dieses Sports als Notre Dame, die versnobte Katholikenuni ein paar Kilometer östlich von Chicago und Liebling der Medienmetropole New York. „Das Argument“, das Beeinflussen der landläufigen Weltsicht, war irrational und unnachgiebig – und doch war es nach Weinreb der Treiber hinter der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung des Sports.
So dominierte Woody Hayes in den 1960ern mit seinen Ohio State Buckeyes – nicht sosehr wegen seiner Resultate, vielmehr dank seines Spielstils, seiner Offense, noch konservativer als seine Weltanschauung – und damit maßgeblich für überzeugende Argumente. So nahm US-Präsident Nixon 1969 dem Wähler die Entscheidung ab, als er Texas zum Landesmeister predigte.
So hatte Bear Bryant im tiefen Süden von Alabama trotz überzeugenden Resultaten erst dann eine realistische Chance unter den Wählern, als er Schwarze in seiner Mannschaft einstellen durfte – unter Anfeindungen rassistischer weißer Gruppen. Doch Bryant war die einzige Figur im deep south, der sich über den Rassismus hinwegzusetzen getraute – als heißgeliebte Identifikationsfigur der ländlichen Bevölkerungsschichten.
College Football ist eine Sache für die Eliten – zwei Handvoll Anstalten teilen den Großteil des Kuchens unter sich auf. Und doch ist der Underdog eines der unverzichtbaren Elemente in dieser Welt – die Penn States, die zu Mächten wurden, die Boise States und Texas Techs, die mit neuen Ideen und spielerischen Revolutionen für die notwendige Weiterentwicklung sorgten, bis ihre Ideen von den Eliten kopiert und verfeinert wurden und sie wieder im Mittelmaß versanken.
Trotz aller Stabilität hat sich der College Football vor allem im letzten Jahrzehnt vom entfernten Verwandten der NFL zu einer Art kleinem Cousin der Profiliga entwickelt. „Das Argument“ wurde durch BCS und Playoffs entwaffnet – wie Wasser auf die Mühlen der Kritiker, die den College Football als das inferiore Gegenstück zur NFL abkanzeln.
Weinrebs Kapitel „The Ballad of Reggie Bush” ist das in y’ar face gegen diese Meinung – und das Kernstück des Buchs, gleichermaßen für die Seite Pro und jene Contra des College Footballs. Es ist die beste Beschreibung, die ich jemals über College Football gelesen habe – diese Gegensätzlichkeit zwischen Amateur und Profi und warum mythische Athleten am College zu sterblichen Mitläufern in der NFL degenerieren und uns gleichermaßen unserer Illusionen berauben und dadurch Sehnsucht nach dem Zauber der Vergangenheit – als wir selber Teenager waren und bis tief in die Nacht feierten und uns grundlos besoffen – wecken.
How can anyone possibly argue that an inherently inferior product [College Football] is somehow superior [to the NFL]?
The reflexive rejoinder to this is to focus on the pageantry, on the atmosphere, on the tradition, on everything that surrounds the game rather than the game itself. And this is part of it; there is a sense of place inherent to college football that isn’t the same in the pros. College Football happens, mostly, in small towns where nothing else is happening. There are live mascots and tailgates and the energy of thirty thousand undergraduates fueled by bladders of four-dollar vodka.
The best professional crowd, currently in Seattle, is equivalent to the sixth- or seventh-best Southeastern Conference crowd. Nobody watches, say, a Falcons-Panthers game for the atmosphere. They watch it for the occupational expertise.
But there’s more to it than that, and I think it goes back to Todd Blackledge and Reggie Bush and Vince Young and hundreds of others like them, great college players with inherent weakness in their game. I think that there is something beautiful about college football’s imperfection, about the notion that the players themselves are works in progress, that they fall victim to corruption and excess, and sometimes they party with too much vigor (like a lot of us did in college), that they do cocky things and they do stupid things and they sometimes lose games they have no right to lose because they are too full of themselves to take their opponent seriously.
They have weird throwing motions, and they run awkwardly, and they drop wide-open passes, and they fall in love with fake dead girlfriends; they are raw and young and they only have to get one foot inbounds instead of two and they give speeches that would sound idiotic in an actual workplace; but because this is college, and because that intangible spirit still persists, they become folk heroes.
(Quelle: Season of Saturdays – A History of College Football in 14 Games – Michael Weinreb, S.164)
Diese Nostalgie bindet den Fan trotz aller Probleme und skandalöser Vorgänge in den Hinterzimmern, in deren Wunden Weinreb seine Finger wie ein scharfes Messer legt („Either [Paterno, Sandusky und die Verantwortlichen von Penn State] they were engaged in active conspiracy to preserve the reputation of the program, or out of fear they had failed to act. Whichever it was, the results were inexcusable“), an „sein“ durch Imperfektion so vollkommenes Spiel. Doch gerade weil sich niemand mehr an den Vince Young der NFL erinnert, aber jeder leuchtende Augen beim Assoziationsspiel „Vince Young und Rose Bowl“ bekommt, schafft es College Football trotz aller Mängel, als mehr als ein Sport durchzugehen.
Ich hätte mir gewünscht, dass Weinreb ein paar mehr Spiele aus der wichtigsten Zeit des College Football in den 1960ern und 1970ern beleuchtet, gerade auch wegen der Segregationsproblematik. Doch Weinrebs Fokus ist ein anderer.
Es ist die Beziehung zwischen dem ewig gleichen Grundsatz und dem schleichenden Fortschritt, der den Student-Athlete professionalisiert hat, und dem nagenden Verlangen, einen National-Champion zu küren bis hin zur Aufgabe des einstigen „Arguments“ – und wie das alles für Veränderung auf und neben dem Platz geführt hat – zum Guten wie zum Schlechten.
College Football steht vor tiefgreifenden Veränderungen. Und doch hofft Weinreb – wie auch ich – inständig, dass es die Verantwortlichen in der Welt des College Football schaffen, den Wesenskern des College Football beizubehalten. Auf dass sie es schaffen, ein Verschmelzen von College und NFL auf lange Sicht zu verhindern.
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