Die NFL-Owner haben bei ihrem Frühjahrs-Treff die Öffnung von Instant-Replay auf Offensive (OPI) und Defensive Pass-Interference (DPI) genehmigt. Damit sind zukünftig gepfiffene, aber auch nicht gepfiffene, Pass-Interferences per Videoschiedsrichter überprüfbar.
Es ist die Öffnung der Büchse der Pandora, denn zum ersten Mal wird eine Ermessensentscheidung für Instant-Replay relevant.
Meine Gedanken zum Thema sind bereits in einem Twitter-Thread verschriftlicht. Im Prinzip handelt es sich um eine logische, seit mehreren Jahren absehbare Ausweitung vom Video-Replay, das in der NFL zuerst einzelne ausgewählte Plays, dann alle Scoring-Plays und Turnovers und nun auch alle möglichen Pass-Interferences ermöglicht.
Coaches wie Bill Belichick waren seit Jahren für die Ausweitung von Instant-Replay auf möglichst alle Plays und Spielsituationen. Das bislang im Elfenbeinturm operierende Competition-Comittee sowie die NFL-Owner haben nun zum ersten Mal auf die Coaches gehört – das allein könnte man als positive Entwicklung auffassen.
Theoretisch wird das Spiel damit fairer. Passspiel ist der Weg, über den heute in der NFL über Sein oder Schein entschieden wird – und Pass-Interference ist einer der kritischsten Plays auf beiden Seiten der Medaille, die am Rande der Legalität für große Implikationen sorgen kann.
Über Jahre sorgte die Regelauslegung von Pass-Interference (grob: „Es darf nicht mehr als zufälligen Kontakt zwischen Angreifer und Verteidiger geben, wenn der Ball in der Luft ist“) für zahllose Diskussionen und hatte oft mitentscheidenden Einfluss auf den Ausgang vieler Spiele. Doch erst mit jener verhängnisvollen – für wirklich alle ersichtlichen – katastrophalen DPI-Entscheidung im NFC-Finale im heurigen Jänner 2019 wurde ein wirklich großes, auf landesweiter Ebene übertragenes Spiel in der Crunch-Time dadurch entschieden. Man kann Argumente dafür aufbringen, dass die falsche Entscheidung anstelle der New Orleans Saints die Los Angeles Rams in das Finale hievte.
Folge, wie so oft bei solchen Entscheidungen: Plötzlich ist die Ausweitung vom Video-Ref nur noch Formsache. Es ist der „italienische Reflex“: Ein verhängnisvolles Ergebnis, unmittelbar gefolgt vom Hammer.
Doch Obacht! Das Parade-Play, mit dem die NFL ihr Umdenken begründete, war nicht der berüchtigte Non-Call im NFC-Finale, sondern ein sehr versteckter Spielzug in der kurz darauf folgenden Superbowl – nämlich dieser:
Die NFL schreibt zum Thema sinngemäß, er wird unter neuen Regeln, eventuell auch per Video-Überprüfung, zur DPI uminterpretiert. Und just in solchen Details liegt die Gefahr dieser an sich erst einmal gut klingenden Regelerweiterung: Ein Kontakt, sei er noch so subtil, wird zum Regelbruch – Interpretationsspielraum tendiert gegen null. Ist im Regelbuch in all seinem Juristendeutsch vermerkt „kein Kontakt“, dann ist es so. Aus. Amen.
Die Folgen sind nicht ganz abzusehen – es gibt mehrere Wege:
- Cornerback / Coverage wird zur unmöglichen Aufgabe und die Zahl an PI explodiert. Vor allem bleibt unklar, wie man Hail-Mary auslegen soll, wo immer Kontakt zustande kommt.
- Die Zahl an PI sinkt, weil Refs mit dem Gedanken an den Video-Ref die Flagge erstmal stecken lassen und trotzdem nur 2 Challenges pro Coach verbleiben. Hail-Mary bleibt per Rundschreiben unangetastet.
- Es wird gar nicht so schlimm wie anfänglich befürchtet, wie so oft, weil die Schiedsrichter die Regel mit Vernunft auslegen
Wie Option 3) aussehen könnte, lässt sich überprüfen, wenn man nach Kanada in die CFL schaut: Dort ist Pass-Interference seit einiger Zeit überprüfbar – ohne dramatische Folgen. Doch ist die NFL demütig genug um sich das eine oder andere Detail in der Kneipenliga CFL abzuschauen?
Auch nicht auszuschließen: Eine baldige Erweiterung der PI in die Soft- und Hardcore-Variante: Ein Spot-Foul (wie bislang) und eine max. 15-yds Variante (wie aktuell im College Football). Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Varianten könnte den Referees obliegen, was jedoch bei Gesichtsmasken-Strafen (5yds vs. 15yds) schnell zu Konfusion und zur Zusammenlegung der beiden Strafen führte.
Oder sie könnte – und hierin läge ein Clou – dazu führen, dass alle per Video-Schiedsrichter umgepolten „positiven DPI/OPI“ Calls als Raumstrafen für maximal 15 Yards ausgelegt werden. Die original korrekt erkannten Calls blieben als Spot-Foul bestehen.
Doch das ist Zukunftsmusik, bis klar ist, welchen Weg die NFL am Feld bestreiten wird.
Theoretisch ist es also eine gute Erweiterung. In der Praxis fühle ich mich – persönliche Meinung – gespalten. Die fortschreitende „Digitalisierung“ der Referees hat Potenziale und sie kann nicht nur das Spiel fairer machen – sie hat es bereits bewiesen. Doch wer kennt nicht das Gefühl, dass bei jedem kritischen Catch oder Touchdown sofort der bange Hintergedanke kommt „wird der Call stehen bleiben?“ Dieser emotionale Dämpfer im Hinterstübchen wird künftig in jedem Catch mitschwingen.
Auslegungs-Geschichten überprüfbar zu machen wird unweigerlich den nächsten Schritt und zahllose Anpassungen in der Formulierung von Regelparagraphen nach sich ziehen – den Grad der Auswirkungen an solchen Doktoreien haben wir im jahrelangen Chaos um die „Catch-Regel“ gesehen.
Für meinen Teil: Ich juble nicht. Ohne den Möglichkeiten des Instant-Replays negativ gegenüberzustehen, ist die jetztige Öffnung eine gefährliche. Sie kann sich in beide Richtungen entwickeln – die „gute / faire“ oder die „schlechte / unansehnliche“. Dass es soweit kommen musste, war lange abzusehen. Jetzt haben wir die Chance, die effektiven Folgen zu studieren.
Ich sehe das jetzt nicht als so dramatisch an. In den ersten 28 Minuten jeder Halbzeit geht es nur durch Coaches Challenge und nur in den letzten beiden Minuten durch „automatische Überprüfung“. Das empfinde ich als eine sinnvolle Lösung.
Die Überlegungen zu Spot-Foul oder nicht finde ich auch sehr spannend.
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