Wir sind am Ende des Ersten Weltkriegs – um 1920 in den USA. Fassen wir die bisherige, rund 50-jährige American-Football-Geschichte zusammen: Nachdem aus wilden Raufereien um einen Ball im Jahre 1869 zum ersten Mal „College Football“ gespielt worden war, hatte sich das Spiel in den nächsten Jahrzehnten schrittweise in eine Sackgasse entwickelt, aus der es nur noch ein Entrinnen gab: Öffnung durch die Zulassung des Vorwärtspasses.
Dieser bewahrte die junge Sportart nicht bloß vor dem Untergang, sondern sorgte auch für einen gewaltigen Attraktivitätsschub und brachte neue Contender wie Notre Dame oder Oklahoma auf die Tagesordnung. Der schleichende Untergang der innovationsresistenten Ivy-League war eingeleitet. Spätestens in der zweiten Dekade des 20ten Jahrhunderts war American Football ein US-weit beliebter Sport geworden – er hatte sich im Mid-West etabliert, war im gebeutelten Süden zu einer Identifikationsmöglichkeit geworden, und auch an der Pazifikküste kam der Football mächtig auf, u.a. dank der ab 1916 ausgespielten Rose Bowl, dem jahrzehntelang wichtigsten College-Footballspiel des Jahres.
Four Horsemen of Notre Dame
Vor allem die Notre Dame University erarbeitete sich einen legendären Ruf – und dafür war der schon in der letzten Folge eingeführte Knute Rockne hauptverantwortlich. Jener Rockne, mittlerweile Coach und Manager in Personalunion, verstand es exzellent, seine Mannschaft nicht nur auf dem Platz zu drillen, sondern auch abseits dessen in Szene zu setzen.
Als echter Meilenstein dabei gilt das Stück „The Four Horsemen of Notre Dame“ vom New Yorker Sportjournalisten Grantland Rice, der die vier Rückraumspieler der Fighting Irish porträtierte und derart gekonnt in Szene setzte, dass Rices Artikel heute als einflussreichstes Stück Sportjournalismus der US-Geschichte gilt.
Die Vier Reiter von Notre Dame sind so wichtig, dass es sogar einen richtig ausführlichen deutschen Wikipedia-Eintrag dazu gibt:
Die Bezeichnung Four Horsemen gilt als bekanntester Spitzname in der Geschichte des College Football. Die Erinnerung an die vier Spieler ist bis in die Gegenwart Teil der Sporttraditionen der University of Notre Dame. Dies liegt nicht nur an ihren sportlichen Leistungen – sowohl Rockne als auch Rice bewerteten beispielsweise die Rückraumformation des Notre-Dame-Teams von 1930 als besser. Dass die Four Horsemen zu den Legenden des College Football zählen, ist neben ihrem Erfolg auf dem Spielfeld vor allem auch auf die mystifizierende Wirkung des Artikels von Grantland Rice und des Fotos von George Strickler zurückzuführen.
Bis Rockne 1931 bei einem Flugzeugunglück ums Leben kam, galt er als einflussreichste Figur des damaligen College Footballs. Unter anderem die ersten Bestrebungen, einen National Champion zu benennen, gehen auf ihn zurück. Natürlich spielte Notre Dame die erste Geige.
Nebenbei bemerkt: Grantland Rice war eine derart mythische Figur, dass ESPN später seine Sport-&-Popkultur Seite „Grantland“ nach ihm benannte. Der Autor dieses Eintrags weint dem Ableben jenes grandiosen Portals bis heute nach.
Der gordische Knoten des College Football
Der College-Football hatte sich damit aus seiner existenzbedrohenden Krise herausgeschwindelt. Doch nun es standen weitere, viel größere Probleme vor der Tür. Die 1920er Jahre waren geprägt von zunehmender Professionalisierung des Sports – und das lag nicht an der klammheimlichen Gründung der Profiliga NFL 1919, die in den ersten Jahrzehnten nur ein Schattendasein fristete.
Es lag vor allem an dem sich großer Beliebtheit erfreuenden College-Sport selbst. Dieser wurde seit rund 1910 von der National Collegiate Athletic Association – kurz NCAA – organisiert, und kämpfte zunehmend mit dem einen großen Problem: Dem „Amateurstatus“ von College-Athleten, die Universitäten mit ihrem Spiel hohe Geldsummen einbrachten, aber andererseits dafür nicht bezahlt werden durften – denn wenn du einen Student fürs Spielen bezahlst, kann er dann überhaupt noch „Student“ genannt werden? Bis heute handelt es sich bei diesem Dilemma um einen nicht zu lösenden gordischen Knoten.
Wo ein Dabo Swinney vor ein paar Wochen mit seinem Rekordvertrag über fast 100 Mio. Dollar die Kröten einsteckt, die College-Sportlern nach wie vor vorenthalten bleiben, muss man sich noch einmal vergegenwärtigen, dass College Football eben an Bildungseinrichtungen gespielt wird, die zum großen Teil finanziell von der öffentlichen Hand subventioniert werden.
Dass man mit College-Football viel Geld verdienen und die Zahl der Immatrikulierten in die Höhe treiben konnte, hatten findige Colleges schon vor dem Ersten Weltkrieg erkannt. Innerhalb von wenigen Jahren etablierte sich somit ein Schattensystem, in dem immer mehr „Studenten“ Stipendien bekamen, nicht weil sie gute Noten hatten die sie für ein Studium qualifizierten, sondern weil sie außergewöhnlichen Athleten waren.
Wenn wir 100 Jahre zurückblicken, war das College-Football Prinzip „mens sana in corpore sano“ (ein gesunder Geist in einem gesunden Körper) schon 1919 für die Tonne. Der Case-Study Centre College verdeutlicht das wie vielleicht kein zweiter Fall.
Das Centre-College war eine Elite-Uni mit nur 300 Studenten, stolz auf die ranghohen Politiker und Richter, die es in seiner Vergangenheit hervorgebracht hatte. Doch ab 1917 verschrieb es sich voll dem Football. Centre bot dem besten Athleten seiner Zeit, Bo McMillan, ein Stipendium an, obwohl McMillan weder Interesse an einem Studium noch die notwendigen Notendurchschnitte für eine Uni-Zulassung hatte.
Centre mutierte mit McMillan im Backfield über Nacht zu einer landesweiten Macht, das sogar Harvard besiegte – und bot McMillan ein paar Jahre im Nachgang sogar den Job als Chefcoach an. Jener Anstellungsversuch ging der Legende nach so: McMillan verlangte ein Gehalt, das 30% über jenem des Uni-Präsidenten lag und begründete das mit der Profitabilität seines Sports. Das Board-of-Trustees lehnte entrüstet ab, wandte sich vom Football ab und das Footballprogramm von Centre verschwand wieder in den Untiefen.
Was blieb, war der Eindruck, dass hinter der Fassade des sauberen Amateursports längst kommerzielle Interessen überhandgenommen hatten. Jene Mechanismen wurden zunehmend hitzig in den Direktions-Gremien diskutiert. Eine vierjährige Studie kam zu erschreckenden Schlussfolgerungen:
- Athleten wurden auf verschiedenste erdenkliche Wege finanziert – über Anleihen hin zu gut bezahlten Scheinjobs
- Fast alle der größeren 130 Teams in der Studie zahlten finanzielle Zuwendungen an ihre besten Athleten – nur die „kleineren“ Teams waren sauber
- Ein guter Sportler zu sein reichte um rekrutiert zu werden – gute Noten waren allenfalls noch ein Goodie
- Einmal im Team wurden Spieler schamlos gedopt – Koffein, Strychnin oder sogar Kokain galten als Wachmacher – um Verletzungen und Erschöpfung vorzubeugen
Problem: Die Studie wurde nach intensiver vierjähriger Recherche erst 1929 in der Morgendämmerung des Schwarzen Freitags veröffentlicht. Aufgrund der anstehenden Weltwirtschaftskrise war es einfach, die Probleme des College-Football zu vergessen oder gar unter den Tisch zu kehren.
Als Zusammenfassung der Zwischenkriegszeit kann man als reüssieren: College Football hatte seit der Einführung des Vorwärtspasses zwar an Sicherheit und vor allem landesweiter Popularität gewonnen. Doch dafür hatte er seine Unschuld verloren.
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