Als der Zweite Weltkrieg 1945 endete, war College Football rund 75 Jahren alt, oder anders: Auf halbem Weg zum heurigen 150-Jahr Jubiläum. Diese erste Hälfte der Footballgeschichte zeigte uns auf, wie aus einem unstrukturierten Kick ein strategisches Rasenschachspiel wurde. Insbesondere während des Zweiten Weltkriegs hatte das Spiel aber auch einen immer militärischeren Touch bekommen – Spezialisierung und Disziplinierung standen ab sofort auf der Tagesordnung.
Die Nachkriegsjahre waren in den USA geprägt vom Kalten Krieg – und von einem immer krasser werdenden „Toughness-Kult“. Amerika hatte den Zweiten Weltkrieg gegen Hitler gewonnen, doch das Kriegsbündnis mit der Sowjetunion und ihren Kommunistenkadern war nur eine Zweckgemeinschaft gegen den Faschismus, die sich bekanntlich kurz nach dem Krieg in erbitterte Rivalität und alsbald offene Feindseligkeit wandelte.
Amerika und die Sowjets rüsteten nicht nur die Waffen hoch, sondern begannen auch, sich auf vielen anderen Gebieten zu duellieren: In der Raumfahrt, auf dem Gebiet der Mathematik, im Sport – insbesondere im Heraushängenlassen der Eier. So wurde American Football zum Ersatzmilitär hochstilisiert.
Amerikaner mussten harte Jungs sein – und was eignete sich dabei besser als die an der Grenzen zur Brutalität physischen Sportart, die für die Jugend der USA kreiert wurde – College Football? Football wurde in den 1950ern aggressiver denn je verherrlicht als Abhärtungskur für die amerikanische Jugend.
Ob der wichtigste Grund dafür war, dass viele wichtige Coaches der 1950er Jahre direkt von militärischen Offiziersstellen kamen, oder ob jene Militärs an die Universitäten geholt wurden um die Footballjugend abzuhärten, ist das Henne-oder-Ei Spiel.
Punkt ist: Der College Football der 1950er war von absoluter Militarisierung geprägt. Headcoaches fungierten als Ersatzdiktatoren, denen blind zu gehorchen war. Vier der härtesten Knochen sind heute kultisch verehrte Figuren:
- Colonel Robert Neyland (Tennessee)
- Woody Hayes (Ohio State)
- Paul „Bear“ Bryant (Texas A&M / Alabama)
- Bud Wilkinson (Oklahoma)
Sie legten mit ihrer totalen Fokussierung auf Physis und körperlichen Drill wichtige Grundlagen dafür, dass weite Kreise der Footballwelt noch heute, über 60 Jahre später, einer mittlerweile alles dominierenden Urgewalt wie dem Passspiel skeptisch gegenüber stehen.
General Neyland gilt noch heute als mutmaßlich bester, zumindest einflussreichster, Defensiv-Coach aller Zeiten. Seine 1939er Mannschaft ist die letzte der College-Football Geschichte, die eine komplette Saison ohne Gegenpunkt überstand. In den Fünfzigern entwickelte Neyland zahlreiche kleinere und größere Innovationen um der zunehmenden Überlegenheit der Offenses Einhalt zu gebieten.
Hayes war ein Choleriker vor dem Herrn, mit dem man sich besser nicht zu sehr anlegte. Sein Grundprinzip steht symptomatisch für die Epoche der 50er: Nobody can win football games unless they regard the game positively and would agree to pay the price that success demands of a team. Das Team über alles.
Hayes war erzkonservativ, abseits des Feldes, aber vor allem auch auf dem Spielfeld. Seine Offense wurde als „three yards and a cloud of dust” beschrieben: Solange durch den aufgewirbelten Staub einer Menschentraube hindurch drei Yards via Laufspiel erzielt wurden, war die Welt heil. Doch wehe, die Luft im Stadion blieb rein, weil der Ball geworfen wurde…
Die wichtigste Plays in Hayes‘ Play-Book waren der Off-Guard Run des Fullbacks sowie der Off-Tackle Run des Halfbacks. Übers Passspiel dachte Hayes nichts Gutes – sein Leitsatz wurde über Jahrzehnte zum Mantra des Ground-&-Pound Fetisches, dem noch heute Coaches wie ein Brian Schottenheimer nachhängen als wäre es der ultimative Lebensgedanke:
„Nur drei Dinge können passieren, wenn du den Ball wirfst (Completion, Incompletion, Interception) und zwei davon sind schlecht.“
Bryant dagegen war ein kettenrauchender Alkoholiker, der zuerst begann, sich mit an der Grenze zu Unmenschlichkeit bewegenden Trainingslagern in brütender Sommerhitze einen Namen zu machen, dann damit, dass er das bis dahin unbekannte Texas A&M mit diesen Methoden an die Spitze führte – und schließlich damit, dass er diese Erfolge als Sprungbrett nutzte um das Footballteam seiner Alma-Mater Alabama zu übernehmen und zum landesweit dominantesten der 1960er Jahre zu machen.
Wilkinson gilt als dritter dieser Disziplin-Nazis. Sein Image als Coach passte so gar nicht zu seinem als besonnen und hochgebildet charakterisierten Naturell. Wilkinson war nur 30 Jahre alt, als er 1947 das Footballteam der Sooners übernahm. Wilkinsons „Oklahoma-Drill“ wurde zur berühmtesten Football-Trainingseinheit der nächsten Jahrzehnte – und von der NFL erst vor einigen Wochen endgültig verboten.
Sportliche Entwicklungen am Spielfeld
Doch Wilkinson lieferte auch Innovationen am Spielfeld. In der Offense war er einer der Vorreiter in der Weiterentwicklung der „Split-T“ Formation, einer der damals dominierenden Offensiv-Systeme. Wilkinson baute als einer der ersten Coaches richtige „Options“ ein – seine Offenses spielten mit QB-Options und Play-Action Pässen und dominierten die Football-Landschaft damit für viele Jahre: Wilkinson gewann in den Fünfzigern drei National Championships.
Doch das blieb nicht die einzige Offensiv-Innovation der Fünfziger: An der University of Delaware entwickelte Coach David Nelson die tödliche „Wing-T“ Formation, die an Universitäten wie LSU National-Championships gewann und beträchtlichen Einfluss auf die weitere Entwicklung im Football hatte und als Vorläuferin von Wishbone und Flexbone gelten kann, und zudem kam verstärkt die I-Formation als prägende Offensiv-Formation auf.
Doch mit der immer breiteren Palette an Offense-Formationen, deren Play-Designs und Game-Planning immer strategischer darauf ausgerichtet waren, die Schwachstellen der nur mäßig organisierten Defenses zu attackieren, wurde in den Nachkriegsjahren gemäß des Toughness-Kults auch verstärkter Fokus auf die Verfeinerung der Verteidigungstaktiken gelegt.
Zum Ende des Zweiten Weltkriegs kannte die Defense zwar die Prügelstrafe als probates Mittel, doch wirklich organisiert war der Abwehr-Football noch nicht. So gab es noch keine klare Trennung der Spielerprofile von Defensive Linemen und Linebackern, und auch Gaps sowie Gap-Alignments waren noch unbekannt.
Mit der zeitweisen Legalisierung des fliegenden Wechsels, der ab 1965 dann permanent erlaubt wurde, wurde Football schrittweise zum „two platoon football“, der Spezialisierung Tür und Tor öffnete und ganz neue Welten strategischer Kniffe erlaubte.
Für die Defenses bedeutete das in erster Linie die Definition der „Gaps“, die erstmals von eingangs genanntem Paul Bryant 1956 bei Texas A&M eingeführt wurde: Für jede Lücke bzw. jede Aufstellung an der Anspiellinie wurden spezielle Profile und Anforderungen verschriftlicht, die die Grundlage für fast alle Defense-Entwicklungen der nächsten Jahrzehnte – eigentlich bis heute – legten. Doch um überhaupt Gap-Profile erstellen zu können, musste man zuerst die Gap-Alignments definieren. Ich habe darüber auf diesem Blog schon vor ein paar Jahren geschrieben:
Auch auf Basis solcher Innovationen wurde die revolutionäre Wing-Tackle 6 Defenses von Colonel Neyland in Tennessee geschaffen, die auch aufgrund ihrer Detail-Versessenheit als eine der wesentlichen Vorreiterinnen galt für die wichtigste heute noch bestehende Defensiv-Formation aus den Fünfzigern: Die 4-3 Defense.
Legacy der Fünfziger
Doch so sehr Figuren wie Neyland, Hayes, Bryant oder Wilkinson das Ambiente der Fünfziger beherrschten, so sehr rumorte es unter der Oberfläche. An mehreren Colleges wurden Proteste von schwarzen Studenten niedergeschlagen, die gegen die Segregation aufmuckten – und nicht in jedem Footballteam akzeptierten die Athleten stillschweigend brutale Methoden wie den Oklahoma-Drill oder Sommercamps in unmenschlicher Hitze.
Ein Hayes mag mit je zwei National Championships in den Fünfzigern und 1960ern wie gemacht gewesen sein für jene Zeit, doch spätestens ab Mitte der Sechziger war der Gap zwischen der Hayes-Generation und der aufkommenden Hippie-Generation unübersehbar. Die Jugend begann sich aufzulehnen gegen die verkrusteten Strukturen und sah die Elterngeneration zunehmend kritisch.
Das alles waren Probleme, die schon gegen Ende der Fünfziger immer offensichtlicher wurden. Das Jahrzehnt des Vietnam-Kriegs, der Studentenbewegungen und der Sexuellen Revolution stand bevor – und auch College Football sollte davon nicht unberührt bleiben.
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Disziplin Nazi. Ist ein wirklich passender Ausdruck ?
Ansonsten wieder ein richtig guter Beitrag.
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