Lamar Jackson gegen Deshaun Watson – am College lieferten sich diese beiden fantastischen Quarterbacks vor drei Jahren einen sensationellen Shootout. Jetzt kommt es zum ersten Wiedersehen in der NFL – in jener NFL, die diesen beiden atemberaubenden College-Quarterbacks einst fast die Qualifikation mitzumachen abgesprochen hätte.
Ich höre die Argumente noch – …zu schlechte Awareness…zu schwacher Arm…zu schwarze Hautfarbe…ist eher ein Runningback als ein Receiver…zu viele Interceptions…zu wenig Idee, wie man seine Stärken in Szene setzen kann…Trubisky ist besser…Josh Allen hat den besten Arm…
Bla bla bla.
Draft-Evaluationen im Nachhinein so lesen, ist oft lustig. Dabei sind Watson und Jackson auch für mich zwei gute Case-Studys. Über beide hatte ich in der laufenden Saison geschrieben, dass sie für mich persönlich die #1 Picks wären – ich erinnere mich insbesondere daran, wie ich schon vor Watsons zweiter sensationeller Endspiel-Performance gegen die Monster-Defense von Alabama im Jänner 2017 dachte „eigentlich muss Watson das Top-Prospect sein“.
Und ein Jahr später schrieb ich „Jackson ist neben Rosen mein #1 QB“, nachdem ich Jackson mehrfach als meinen #1 Overall Pick angepriesen hatte [1][2].
Doch die öffentliche Meinung war eine andere. Sie sah andere Quarterbacks vorne, teilweise weit vorne. Jackson wurde sogar von einem GM, den die NFL-Journaille in die Hall of Fame wählte (Bill Polian) nahe gelegt, einen Positionswechsel auf Wide Receiver (!!!) vorzunehmen.
Doch crazy Takes im Draft-Vorfeld gehören zum Standardrepertoire. Ohne wirst du in einem Business, in dem jeder mitredet, nicht gehört. Doch im Falle von Jackson und Watson waren die skeptischen Stimmen schließlich zu viele – viel zu viele!, und sie kamen auch von respektierten Leuten, die alle Watson und Jackson als wesentlich schwächere Prospects hatten als dass ich mich getraut hätte, auf meinem eigenen Standpunkt zu verharren.
Ich begann also, meine eigene Evaluierung zu hinterfragen und meine Meinung an den Public anzupassen. Ich endete im April mit folgenden Worten…
Deshaun Watson ist der meistdekorierte Quarterback im Jahrgang von 2017 und war lange mein klarer Favorit auf den #1 Pick. […] Watson ist einer der besten College-Footballspieler, die ich jemals gesehen habe. Knackpunkt ist seine Entwicklungsfähigkeit. Inwieweit hat Watson sein Potenzial bereits voll ausgeschöpft? Wieviel besser kann der banale Wurfarm noch werden?
Viele Beobachter, inklusive Greg Cosell, attestieren Watson in etwa das Potenzial eines Alex Smith. Das ist keine Schande, aber echtes Lob sieht anders aus. „Alex Smith“ heißt übersetzt: Ja, er kann eine NFL-Offense anführen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Und Rahmenbedingungen sind in diesem Fall ein sehr starker Supporting-Cast und eine Watson auf den Leib geschneiderte, kurzpasslastige Offense.
Watson und Trubisky verglich ich im gleichen Eintrag so:
Der Vergleich zwischen Trubisky und Watson ist einer, der in fast jedem Draft angestellt werden kann: Ein „unfertiges“ Prospect, das aussieht wie ein Star-Quarterback. Und ein „fertiges“ Prospect, das spielt wie ein Star-Quarterback. Der eine hat Anlagen, die potenziell in der NFL zu Großem reichen. Der andere hat Anlagen, die wahrscheinlich zu Gutem reichen.
Jackson, vielleicht noch vor RG3 der beste College-Quarterback, den ich bislang gesehen habe, war eine polarisierende Figur im Scouting-Prozess […].
Zentral für die Bewertung: Jackson war „pass first“. Er war keiner der mobilen QBs, die bei der ersten Gelegenheit loslaufen, sondern blieb vielmehr in der Pocket, bis es gar nicht mehr anders ging. Es gibt Dutzende Plays, bei denen Jackson mit der Chance auf den großen Run einen Checkdown-Pass anbrachte – jenen Checkdown, der auch in der NFL so oft ein Retter in der Not sein wird.
Jackson ist also ein phänomenaler Läufer und hat einen rattenscharfen Arm. Er hat gelernt zu werfen, bevor der Wide Receiver offen steht (Häkchen in der Rubrik „Antizipation“) und gilt als exzellenter Werfer in enge Fenster über die Spielfeldmitte.
Die Schwächen, an denen es bei ihm zu arbeiten gilt, sind die allgemeine Konstanz und Präzision bei Würfen an die Seitenlinie, sein manchmal etwas statisch & saftlos wirkender Armbewegung, die hie und da einen Ball verhungern lässt sowie sein nicht immer souveränes Standing in der Pocket. Zu schnell knickt Jackson im Angesicht von Druck noch immer ein, wird hektisch und bringt die Pässe wenn nicht vogelwild, dann zumindest nicht optimal, raus (es gibt Ausnahmen).
Ersteres Problem, seine nicht permanent perfekte Wurfgenauigkeit (wie Allen unter 60% Completion-Rate), ist Philosophie-Frage: Die einen sehen darin ein typisches „mobile-QB“ Problem. Andere, wie Trent Dilfer, glauben, dass es am unsauberen Setzen des letzten Schritts liegt – ein Problem, das sich per Coaching austreiben lässt.
Es war immer klar, dass Watson und Jackson die Anlagen haben um in der NFL erfolgreich zu sein. Was nicht klar war: Ob sie diese PS in der NFL auch auf den Boden bringen würden.
Ich ließ mich verbiegen von der allgemeinen Skepsis gegenüber diesen beiden farbigen Quarterbacks. Zugegeben: Es gab auch statistische Modelle, die dem einen wie dem anderen gegenüber durchaus negativ eingestellt waren – insofern gab es mehrere Anzeichen, die auf gebotene Vorsicht hindeutete.
Doch wie wir heute wissen, sind beide „for real“ und hätten auch die höchsten Draftpicks gerechtfertigt. Warum ich mich trotzdem nicht ärgere über meine schrittweise Anpassung meiner Sicht auf diese beiden Prospects, möchte ich kurz erläutern.
Wo Unsicherheit herrscht, ist Vorsicht geboten
In einem Umfeld von so großer Unsicherheit mit so vielen Parametern wie dem Draft-Scouting wäre es fahrlässig, auf das Einholen und Abwägen anderer Meinungen zu verzichten. Wir sprechen hier nicht von Fakten wie Pass > Lauf, Offense > Defense oder Go for it on 4th & short, wo überall klare, eindeutige Beweislage herrscht. Wir sprechen hier über Draft-Scouting, wo es eintausend Variablen gibt, die richtig einzustellen sind und nur teilweise quantifiziert (quantifizierbar?) sind.
Wie schon Wirtschaftsnobelpreisträger Dan Kahneman in seinem Lebenswerk zeigte, ist es unter Unsicherheit der richtige Move, seine Meinung ausgehend von einem Referenzwert anteilig am Vertrauen in die eigene Bewertung anzupassen. Weniger Vertrauen in sich selbst = bleib nahe am Referenzpunkt. Viel Vertrauen = du kannst dich weiter weg davon bewegen.
Für gewöhnlich ist es also unter großer Unsicherheit der richtige Move, so viel Bescheidenheit an den Tag zu legen um zu verstehen, dass man selbst nicht die Weisheit mit Löffeln gefressen hat. In diesem Fall eben, dass ich durch die allgemeine Skepsis gegenüber Watson und Jackson auch für mich persönlich eine gewisse Skepsis gegenüber diesen Prospects und auch meinem eigenen Beurteilungsvermögen zeigte.
Klar ist auch:
- Common-Sense als Maßstab zu verwenden, funktioniert dann am besten, wenn dieser selbst aus hunderten voneinander unabhängigen Meinungen bestünde – was im Draftumfeld mit dem Motto „Scouten ist und bleibt, was einer ab- vom andern schreibt“ nur sehr bedingt der Fall ist.
- Und es funktioniert am besten dann, wenn der Common-Sense so unvoreingenommen wie möglich ist – was bei schwarzen Quarterbacks besonders wenig der Fall ist (besonders die Evaluierung Jacksons strotzte nur so vor unterschwelligem Rassismus).
Doch 1. bleibt auch das Draftumfeld mit zahlreichen Scout-Vorreitern und immer mehr statistisch haltbaren Modellen ein Gebiet, in dem es ausreichend freie Meinungen gibt, und 2. gab es trotz Ressentiments gegenüber farbigen QBs in den letzten 20 Jahren auch durchaus Beispiele von solchen hoch gedrafteten QBs – Akili Smith, Donovan McNabb, Michael Vick, Jamarcus Russell, RG3 oder Jameis Winston.
Schlussfolgerung
Hätte ich nicht adjustet, wäre mir Mahomes (dem gegenüber ich skeptisch war, obwohl zahlreiche Indikatoren auf einen Superstar hindeuteten) durch die Lappen gegangen. Hätte ich zu viel adjustet, hätte man mich auch von Trubisky oder Josh Allen überzeugen können.
Und dennoch: Ich glaube, mein Haupt-Takeaway von Draft mit Watson und Jackson ist nicht, den Public-Sense stärker auszublenden, sondern noch selektiver vorzugehen. Überspitzt gesagt: Referenzpunkt darf nicht Güteklasse Polian sein, sondern eher Güteklasse PFF. Recherchetiefe über Meinungsstärke. Track-Record der Scouts über Masse der Scouts.
Zu viele Scouts denken zu sehr in schwarz und weiß, dabei sind die Besten nicht so gut wie sie ausschauen und die Schlechtesten nicht so übel wie sie ausschauen. Die Grauzone im Scouting ist groß und hat viele Abstufungen.
Und zu guter Letzt verändert sich die NFL, und es gibt immer weniger Gründe dafür, auf alten Dogmen („Mein QB muss groß und weiß sein und einen Raketenarm besitzen“) zu beharren, wenn die NFL heute zunehmend einen Kurzpass-Stil mit quicken Releases spielt, und es zahlreiche kreative Offensive Coordinators gibt, die gute Ideen haben wie sie früher undenkbare Quarterback-Talente entsprechend in Szene setzen können.
Also: Vorsicht vor Selbstüberschätzung und Offenheit für Neues sind die beiden Eckpfeiler, auf die ich persönlich meine Urteile in solch vielschichtigen Gebieten wie dem NFL-Draft aufzubauen versuche. Manchmal führt das zu schlechteren Ergebnissen als meine ursprüngliche, isolierte Meinung gebracht hätte – wie bei Watson oder Lamar Jackson. Doch auf lange Sicht ist Demut besser als der Glaube, die Weisheit für sich gepachtet zu haben.
Ganz stark, wegen solcher Artikel bin ich jeden Tag hier!
Sehr geiler Beitrag! Danke.
ja, spannender Einblick!
Es geht mir auch manchmal so, daß ich ein Prospect höher schätze als die Experten und mich dann von ihnen zu stark beeinflussen lasse.
Man müsste eigentlich seine Bewertung ganz unabhängig von allen anderen abgeben, aber ich wette dann würde mein „Ergebnis“ viel schlechter aussehen 🙂
Die Macht der Weisheit der vielen…
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