Der Trade von Carson Wentz nach Indianapolis und seine Implikationen

Also doch: Die Indianapolis Colts haben gestern Abend für Eagles-QB Carson Wentz getradet. Die Implikationen im Überblick.

Noch am Vormittag hatte ich gestern die Zwickmühle der Colts analysiert – trotz eines guten jungen Kerns mit vielen Rookieverträgen irgendwo in der Mitte der NFL gefangen, weil es seit dem Rücktritt von Andrew Luck keine langfristige Quarterback-Lösung mehr gab.

Colts-GM Chris Ballard hat gestern den Trigger gezogen und Wentz von den Eagles losgeeist. Der Preis ist auch schon bekannt: Die Colts zahlen ihren 3rd Round Pick 2021 und einen 2nd Round Pick 2022. Dieser 2nd Rounder kann unter einer dieser beiden Bedingungen zu einem 1st Rounder werden:

  • Wentz spielt heuer mindestens 75% der Snaps
  • Oder Wentz spielt mindestens 70% der Snaps und die Colts qualifizieren sich für die Playoffs

(Also gar nicht unwahrscheinlich!)

Der Wentz-Kollaps

Bevor wir den Trade analysieren können, muss ich kurz ausholen. Gestern ist der Mina-Kimes-Podcast Minuten vor dem Wentz-Trade online gegangen. Ich habe Minas Interview mit Eagles-Experte Benjamin Solak (zirka Minute 10-30) noch im Wald gehört und es ist eine der besten Zusammenfassungen von dem epischen Wentz-Kollaps in der letzten Saison gewesen.

Die Frage nach dem „echten“ Carson Wentz ist eine heikle. 2016 kam er als Supertalent quasi aus dem Nichts in die NFL, ein Jahr später war er fast Liga-MVP – aber die Superbowl gewann sein Backup Nick Foles mit einer unvergesslichen Performance. Wentz‘ hervorragende Zahlen waren (wie Bill Barnwell damals schnell feststellte) vor allem festzumachen an fantastischer Redzone- und 3rd-Down-Performance und vielen Big Plays.

Nach seinem Kreuzbandriss hatte Wentz zwei Jahre lang Probleme sein optimales Kampfgewicht zu finden. Er war nicht mehr so quick und hatte immer wieder weiterführende Verletzungsprobleme (z.B. Rücken).

2019 sieht Solak am ehesten als „echten“ Wentz an. Die Offense lief einige Wochen lang wie sie geplant war – aber mit dem immer mieser werdenden Support-Cast zeigten sich Ende der Saison raus immer mehr Risse quasi als Innuendo für 2020: Verpasste Slants, verpasste Drag-Routes, verpasste Swing-Pässe.

Die Probleme wurden über die Corona-Offseason nicht behoben – und 2020 brach das Kartenhaus in sich zusammen. Wentz spürte kein Vertrauen mehr von den Verantwortlichen, keins von den Coaches, er vertraute keinem seiner Mitspieler mehr, nicht der O-Line und nicht den Receivern, nicht dem Spielzug-Design, niemandem. Er hatte keine Lust mehr auf die Offense. Er warf einfach das Handtuch.

Ausgeschrieben hat es Solak schon Anfang Oktober so formuliert:

Wentz hates the players to whom he’s throwing the football, as they reward his targets with poor routes, drops, incompletions, and interceptions. He plays like a quarterback in fear of his teammates and how their failures will reflect on him, in a locker room he has never won over, to a fanbase that has forever wondered if a better option is on the bench — an idea only encouraged by the same front office that considered his current weapons sufficient when they drafted Jalen Hurts. When he throws to them, he throws beyond them and behind them and below them.

Es war einfach ein kompletter Kollaps, auf allen Ebenen – und Wentz zeigte keine gute Reaktion darauf. Wentz hat sich über die Jahre einen Ruf als ziemlich beratungsresistent erworben. Seine wesentlichen technischen Fehler sind die gleichen wie als Rookie. Wentz warf kaum mehr kurze Routen, weil seine Präzision es nicht zuließ. Hör dir dieses Segment aus obigem Podcast an (!!):

Aber innerhalb der Struktur der Offense blieb er auch nicht – wie auch, wenn du es eh nur mit Idioten zu tun hast? Prinzipiell wird es für die Colts nun drauf ankommen, Wentz wieder das Vertrauen zu sich selbst, zur Offense, zu einfach allem, zu geben um wieder einen funktionablen NFL-Quarterback zu bekommen.

Mark Schofield hat bei Touchdown Wire einen schönen Artikel darüber geschrieben, wie das gehen kann. Ja, wir sprechen über Psychologie. Auch der Quarterback braucht den Glauben an sich selbst – und Wentz scheint ein fragileres Mindset als ein Tom Brady zu haben.

Colts-Headcoach Frank Reich gilt als Wentz-Buddy – er war der OffCoord während der 2017-Saison. Doch Solak merkt auch trocken an: Wentz hat seit Jahren keinem Coach in Philly mehr was geglaubt. Warum sollte das nun zwingend anders werden? Was passiert nach dem ersten größeren Coaching-Review nach Woche 3, wenn die Coaches ihm zu ersten Umstellungen raten?

Der Trade aus Sicht der Eagles

Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

Philadelphia entledigt sich des Wentz-Problems, das ohne Luftveränderung wahrscheinlich (siehe oben) eh nicht mehr zu lösen war – und bekommt sogar noch zwei Picks, darunter vielleicht einen 1st Rounder. Aber die Eagles fressen auch fast 34 Mio. Dead-Money. Sie pulverisieren damit den NFL-Rekord für toten Cap-Space, den bislang die Rams mit mehreren Dead-Caps um die 20 Mio (Jared Goff, Todd Gurley, Brandin Cooks) gehalten haben.

Aber dafür haben sie nun Klarheit. Sie wissen um ihre Cap-Situation heuer (extrem schlecht) und nächstes Jahr (mehr als 30 Mio gespart).

Zum Big-Picture für GM Howie Roseman und seinen Staff aus. Ich habe schon vor fast zwei Jahren, direkt nach der sehr frühen Vertragsverlängerung für Wentz geschrieben:

32 Mio/Jahr ab 2021 klingt angesichts der momentan ausgestellten und kolportierten QB-Verträge auch nicht so exorbitant wie befürchtet. Aber die Verlängerung ist einfach sehr früh. Ich habe kein überaus gutes Gefühl, TBH. Wentz war bis jetzt gut, aber seine Stats sind deutlich schwächer als sein Ruf.

Wir wissen heute: Das war noch eine gütige Einschätzung. Dass Wentz derart in sich zusammenfallen würde, war natürlich nicht abzusehen. Aber es war immer eine umstrittene, sehr, sehr frühe Verlängerung für einen QB, der auch vor zwei Jahren eindeutig nicht zur Liga-Elite zu zählen war.

Aber seien wir ehrlich: Bei den QB-Preisen am Markt ist eine frühe Verlängerung oft vorteilhafter als eine späte – siehe nur das Beispiel Prescott in Dallas. Roseman hat gegambelt und verloren. Jetzt die Eier zu haben, den Fehler abzubrechen und die sunk costs abzuschreiben, darf man Roseman gern auch positiv auslegen. Zu oft hängt die NFL zu lange an solchen Moves fest, weil sie sich die Fehler nicht eingestehen will. Nein: Zu oft hängt der Mensch an allerlei Fehlern, schlechten Beziehungen, ungeliebten Jobs fest, weil er sich nicht eingestehen will sich geirrt zu haben.

Roseman hat sogar noch erstaunlichen Draft-Value akquiriert. Er hätte dem Vernehmen nach sogar noch höhere Picks bekommen können – von Chicago. Doch Wentz blockte wohl höchstpersönlich einen Wechsel dorthin. Erstaunlich, über welche Macht sogar mittelmäßige Quarterbacks heute verfügen! Für Roseman war’s am Ende wohl einfach auch bad karma.

Fehlevaluierung des Prospects Wentz. Fehlevaluierung der Gesamtsituation in Philly. Innerhalb von drei Jahren einen Superbowl-Champ mit Ingredienzien einer Mini-Dynasty komplett zertrümmert. Wentz ist weg, Headcoach Doug Pederson ist weg. Die Eagles stehen vor einem Neustart. Aber es ist ein Neustart nicht von ganz unten à la Browns oder Dolphins, sondern einer von einer nach wie vor guten Basis.

Sie haben den #6 Pick und könnten eventuell mit den beiden Picks aus dem Wentz-Trade einen Angriff auf einen der Top-4 Picks in Angriff nehmen: Hashtag Quarterback, Jalen Hurts zum Trotz? Vielleicht findet sich sogar eine Mannschaft, die Lust hat auf den conditional 2nd rounder zu gambeln und mit einem 1st Rounder vor Augen einen billigeren Trade als gedacht einfädelt. Oder vielleicht finden die Eagles einen Partner für einen Trade nach unten, weil sie doch erstmal mit Hurts weitergehen wollen und den QB4 oder QB5 der heurigen Draftklasse jemand anderem überlassen.

To be seen. Ich habe jedenfalls weiter Vertrauen in Roseman, den smartesten GM in der NFL. Wentz zum Trotz.

Der Trade aus Sicht der Colts

Ich hab’s schon gestern geschrieben: Die Colts waren in der Zwickmühle und mussten befürchten, ihr kurzes „Fenster“ mit guten, billigen Rookies zu verschleudern, weil es keinen Weg zu einer verlässlichen Quarterback-Lösung gab.

GM Ballard hat mit dem Trade für mein Ermessen eine vertretbare Entscheidung getroffen. Er hat nicht Haus und Hof verkauft und bekommt einen Quarterback, der schwierig, aber nicht unmöglich zu retten ist (erneut: siehe oben). Das Potenzial ist definitiv da.

Die Colts bekommen einen 28-jährigen Wentz in Essenz für zwei Jahre und 47.4 Mio. Das sind keine 24 Mio/Jahr. 2023 und 2024 kostet Wentz um die 25 Mio/Jahr, aber dann ohne Dead-Money. Spielt Wentz zumindest auf dem Level von 2018 oder 2019, ist er mit diesem Deal aus Vertragssicht sogar sowas wie Schnäppchen.

Freilich aber muss es überhaupt dieses Niveau werden.

Immerhin: Die Rahmenbedingungen sind passabel: Eine der besten Offense Lines, der allenfalls nach dem Rücktritt von Anthony Castonzo ein Left Tackle abgeht (gute Free Agent-Klasse, sehr starke Draftklasse auf der Position), einen Coach, der Wentz bereits kennt und ihn in seiner besten Saison unter seinen Fittichen hatte – und die Chance auf passable bis sehr gute Waffen.

Die Colts spielen zwar ein Offense-System mit vielen kurzen und langen Crossern und fangstarken Runningbacks – also das, was Wentz in Philly zuletzt nicht mehr machte. Doch die Colts haben auch vielversprechende junge Receiver wie Michael Pittman und genug Cap-Space um sich einen der Top-Receiver zu holen um Wentz die notwendige Infrastruktur hinzustellen um die alte Klasse noch einmal herauszukitzeln.

Natürlich birgt der Move Risiken – und verbaut wahrscheinlich jede Chance auf einen QB-Uptrade in die Top-5 in diesem und im nächsten Draft. Doch ich denke gemessen an den Alternativen und mit der etwaigen Upside ist der Trade mit dem Preis letztendlich doch akzeptabel.

Denn merke: Wir wissen über Quarterbacks nicht so viel wie wir glauben. Es hängt einfach zu viel an den Umständen – vor allem für die QBs der Güteklasse Wentz – den guten, nicht transzendenten QBs. Mit etwas Glück kriegen die Colts die gute Version – und sehr gute Resultate. Wenn nicht? Ist die Situation auch nicht so viel schlechter als noch gestern zu Mittag.

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8 Kommentare zu “Der Trade von Carson Wentz nach Indianapolis und seine Implikationen

  1. Den Hype um Wentz habe ich nie verstanden. Zweimal musste der Foles das Ergebnis für die Eagles retten.

  2. Am besten ist die Liebe von ESPN Experte Dan Orlovsky zu Wentz. Er erwartet sogar eine MVP Saison von ihm. Ich frage mich echt, woher diese Liebe rührt.

    Ansonsten mal wieder eine sehr gute Einschätzung zur Situation bezüglich der Eagles und der Colts vom Hausherrn.

  3. Bei aller berechtigter Kritik an Wentz, aber dass Foles die Eagles 2017 „retten“ musste, ist doch arg an den Haaren herbeigezogen. Mit Wentz war Philli 11-2. Wenn ,dann war es Foles, den die Defense im Divisional rausgerissen hat bevor die beiden Superspiele zum Ende folgten.

  4. Flojo, dem schließe ich mich 100% an.

    Im Übrigen hoffe ich einfach, dass Carson sich wiederfindet. Das wäre für alle Beteiligten das Beste. Selbst die Eagles bekommen statt 2nd den 1st Rounder. Und wir gute Offense aus Indy.

  5. Trainer gefeuert und nun doch auch Wentz weg. Ich dachte der Trainer war das Bauernopfer. War das so geplant oder agieren die Eagles planlos? Den Vertrag den sie Wentz damals gaben lässt Zweifel an den Fähigkeitenfür richtige Entscheidungen offen. Solche Fehler dürfen sie nicht mehr wiederholen. Ja spannend, wie es nun weitergeht in Philly.

  6. Chicago hat wohl nie irgendwas geboten.
    Nach Goff der zweite QB den ich nicht bei einem anderen Team erwartet habe. Scheint als ob die Teams vor einem Haufen dead cap nicht zurückschrecken.
    Solange Wentz Top 15 ist sollte es etwas bringen.

  7. Pingback: All-32: Indianapolis Colts 2021 Vorschau | Sideline Reporter - Eier, wir brauchen Eier!

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