Nächster Teil der EURO-Preview.
Gestern haben die Italiener mit einem souveränen Sieg gegen die Türkei eröffnet und haben damit viele Vorschusslorbeeren bestätigt. Auch wenn die Türken über weite Strecken extrem passiv waren, so wird es doch erstmal ein Team brauchen, das die Mittelfeldzentrale der Azzurri ausspielt – remember: Marco Verratti war noch gar nicht im Einsatz!
Italien macht einen brutal stabilen Eindruck, und die Stimmung in der Mannschaft ist extrem gut. In praktisch jedem Interview verwiesen die Akteure auf den großen Zusammenhalt vom Coach „bis zum Magazzineur“. Sportlich wurde – auf dieses eine Spiel blickend meines Erachtens zurecht – Domenico Berardi als der entscheidende Schlüsselspieler herausgehoben, auch wenn diese Mannschaft in erster Linie von ihrer Geschlossenheit lebt.
Man war auch erfinderisch. Diese neuartige Eckballvariante wurde just vor dem Spiel im Fernsehen vorgestellt und von Spielern kommentiert als „bei Ecken wird kein Abseits gepfiffen“ – nur um dann den (nicht berechtigten) Pfiff im Spiel zu bekommen:
Aber das Beispiel wird noch Schule machen.
Sehr gut getan hat dem gebeutelten Land auch plain and simple, dass es mit ein paar Tausend Zuschauern im Rund des Römer Olympiastadions einfach mal wieder losgegangen ist. „Ripartenza“ (Neustart) war das Wort des gestrigen Abends. Dass die souveräne Auftaktvorstellung der Mannschaft on top draufgelegt wurde, war eigentlich nur eine Zugabe.
Wahrscheinlich wird das gestrige Spiel in die Annalen der italienischen Fußballgeschichte eingehen, auch wenn es letztlich nicht zum Titel reicht.
Und damit vom wahrscheinlichen Sieger der Gruppe A zur vielleicht schwächsten Staffel des heurigen Turniers: Der Gruppe C.
Niederlande
Holland ist endlich mal wieder bei einem großen Turnier dabei: 2016 und 2018 verpasste Oranje die Qualifikation – was eigentlich schandhaft ist für diese große Fußballnation. Doch wenn man zurück blickt in die Geschichtsbücher, dann sind solche extremen Zyklen von großem Erfolg und immediatem Abtauchen gar nicht so ungewöhnlich für die Niederlande, die launische Diva des Weltfußballs.
Jetzt ist das Team an einigen Stellen fantastisch besetzt – an anderen krankt es noch ein bisschen mit der Weltklasse. Backbone bildet die Achse der atemberaubenden Ajax-Mannschaft von 2019, die mit den sensationellsten Fußball der letzten Jahren spielte, ehe sie nach Pfosten- und Lattenschüssen in der Nachspielzeit des CL-Halbfinals von Tottenham eliminiert wurde.
Zwei der Schlüsselspieler sind Innenverteidiger Matthjis De Ligt und der zentrale Spielgestalter Frenkie De Jong. Beide sind in der Heimat absolute Publikums- und Schwiegermutterlieblinge – vor allem De Jong von Barcelona, einer der wenigen Stars im internationalen Fußball, der ohne fette Autos, große Sprüche und hässlichen Tätowierungen auskommt. Bis jetzt zumindest.
Da ist ein Memphis Depay der krasse Gegenentwurf: Ein schwarzer Junge aus zweiter Einwanderergeneration aus einem Dörfchen auf dem Land, umstritten in der Heimat wegen seiner an Arroganz grenzenden Selbstvertrauens. Depay schien vor ein paar Jahren zum nächsten großen holländischen Stürmerstar zu werden, aber irgendwie hat es nicht für die ganz großen Clubs gereicht.
Pluspunkte sammelt Memphis im Hause korsakoff mit zwei Facts: Er nutzte Analytics um seinen Wechsel nach Lyon einzufädeln um seine in Manchester stagnierte Karriere zu revitalisieren. Und sein Lieblingsspiel ist Skip-Bo. Mehr entnimmt man diesem Artikel beim Guardian.
Okay. Zum Sportlichen.
Holland wird von Frank DeBoer trainiert – dem Kapitän der grandiosen holländischen Mannschaften, als ich in den Neunzigern alt genug wurde um Fußball zu schauen. DeBoer macht bis jetzt nicht den Eindruck, ein Coach von Weltformat zu werden, aber immerhin hat er in den letzten Monaten seine beiden Stammformationen gefunden: Klassisches 4-3-3 gegen normale Gegner, 5-3-2 gegen die besseren.
Defensiv ist die Mannschaft einigermaßen stabil, obwohl der nominelle Kapitän und Antreiber Virgil Van Dijk ausfällt. De Ligt (jetzt Juve) und Stefan De Vrji (Inter) bilden ein starkes Innenverteidiger-Pärchen, aber auf den in diesem System so wichtigen Außenverteidigerpositionen gibt es ein paar Fragezeichen.
Links dachte man, dass Wijndal aus Alkmaar gesetzt ist, aber es kursieren auch Gedankenspiele, auf den PSV-Mann Denzel Dumfries zu setzen. Rechts ist noch alles offen. Daley Blind wäre ein Mann von Format, aber ihn plagen hartnäckige Knöchelprobleme.
Die Mittelfeldzentrale ist natürlich eine Stärke mit De Jong und dem ähnlich populären Georginio Wijnaldum. Wijnaldum wirkt in der Elftal „befreiter“ als in Klopps Liverpool-System, in dem er manchmal passiv daherkommt. Der dritte Platz in diesem rotierenden Mittelfeld ist noch offen und könnte je nach Spiel und Gegner vergeben werden. Marten De Roon von Atalanta Bergamo dürfte die eher defensive Auslegung sein, Davy Klassen die eher offensive. Möglich aber auch, dass DeBoer dem jungen Supertalent Ryan Gravenbech von Ajax eine Chance gibt sich zu beweisen. Gravenbech ist erst 18.
Im Sturm ist nur fix, dass rechts Steven Berghuis spielt, der als absolute Konstante im Nationalteam gilt. Depay ist natürlich auch gesetzt, aber er wird mal auf dem linken Flügel, mal in der Mitte eingesetzt. Spielt er links, wird vorne drin wohl Luuk De Jong auflaufen – auch wenn der Wolfsburger Wouter Weghorst mehr und mehr zur validen Alternative wird. Wir sehen aber anhand der beiden Namen: Einen echten Klassestürmer gibt es nicht.
Und damit reiht sich Holland in die Riege der Mannschaften aus dem „Tier 2“ ein, die zu echt starken Vorstellungen in der Lage sind, aber denen im Zweifelsfall ein richtig verlässlicher Knipser abgeht, der mal das Ruder herumreißt, wenn es ansonsten stockt. Denkbar, dass es bei günstigem Turnierverlauf ins Halbfinale geht, aber im schlimmsten Fall droht schon im Achtelfinale einer der „Big 3“ aus der Todesgruppe F.
Österreich
Was soll man über die Österreicher schreiben? Dass ich noch nie einen Turniersieg dieser Mannschaft erlebt habe? Dass sie die vielleicht beste Spieleransammlung seit Äonen haben, besser als die Ausgabe 2016, die dann im Turnier in Frankreich so krass enttäuschte?
Eigentlich sollte es angesichts des spektakulären Mixes aus international bekannten Spieler (Marko Arnautovic, Julian Baumgartlinger), Spielern in ihrer Prime (Marcel Sabitzer, Stefan Lainer, Valentino Lazaro) oder jungen Nachwuchshoffnungen (Christoph Baumgartner, Sasa Kalajdzic) und natürlich den Superstar David Alaba einen Haufen Optimismus geben.
Aber die Stimmung in Österreich ist auffällig schlecht. Das liegt wahrscheinlich daran, dass sich niemand am Nationalcoach Franco Foda erwärmen kann. Der erfüllt prinzipiell alle Vorurteile vom Piefke – biederer Arbeiter, humorlose Spaßbremse, uninspirierter Langweiler, und wenn wir ehrlich sind, dann spielt die Mannschaft wie der Trainer: Pragmatisch, Risiko minimieren, kein Sinn für Kreativität. Fußball wird hier gearbeitet, nicht gezaubert. Selbst vom offensiven Pressing der Salzburg/Leipzig-Schule ist eher selten was zu sehen.
In der Qualifikation hat die Mannschaft sich dann auch eher bieder durchgearbeitet – aber immerhin: Man ist qualifiziert, und Foda hat einige taktische Varianten durchprobiert. Es ist denkbar, dass es für jeden Gegner einen anderen Plan gibt.
Alaba ist natürlich der wichtigste Spieler. Ich verehre Alaba seit nunmehr einem Jahrzehnt als einen der besten Spieler der Welt. Er kann als linker Außenverteidiger spielen, im zentralen Mittelfeld, am linken Flügel und zuletzt auch als Abwehrchef in der Innenverteidigung. Ich tue mir schwer, auch nur drei vergleichbare Beispiele aufzuzählen.
In der Nationalmannschaft wird Alaba wohl diesmal als linker AV auflaufen – denn als zentraler Verteidiger hat ihn Foda noch nie spielen lassen, und im Mittelfeld ist die Mannschaft tief besetzt:
- Stefan Ilsanker und Julian Baumgartlinger sind, wenn fit, verlässliche defensive Leute
- Marcel Sabitzer und Konrad Laimer (kann auch rechter AV) sind die RedBull-Connection, vor allem Sabitzer hat sich zu einem dynamischen Antreiber entwickelt
- Christoph Baumgartner ist nicht nur offensivstark, sondern auch ein richtig heller Kopf.
Das sind nur einige Optionen. Möglichkeiten zu variieren sind also da – auch um Pressing zu spielen. Wie viel davon kommen wird, müssen wir abwarten. Vorne drin spielt der mit 1,98m imposante Mittelstürmer Kalajdzic, der mit 16 Toren (u.a. 8x Kopfball) in Stuttgart eine exzellente erste Bundesliga-Saison gespielt hat (2019/20 hatte er mit Kreuzbandriss verpasst). Kalajdzic ist aber kein eindimensionales Kopfballungeheuer, sondern unterwegs ein richtig komplettes Paket zu werden: Technisch fein, richtig intelligent im Pressing, guter Ballverarbeiter. Er ist Pivot und Endabnehmer zugleich.
Aber wie gut er in Szene gesetzt wird, bleibt die große Frage. Eigentlich müsste Österreich in dieser Gruppe locker durchgehen, aber das Team wirkt zu oft gehemmt. Die Zeiten, in denen Österreich mangels Spielertalent schaumgebremst spielen musste, wären eigentlich vorbei. Aber so richtig von der Leine gelassen wird die Mannschaft nicht, und deswegen droht eine weitere Enttäuschung.
Ukraine
In der Ukraine gilt: Der Trainer ist der Star. Das war eigentlich schon zu Zeiten von Valeri Lobanovski so – und jetzt wiederholt sich Geschichte mit Andrij Shevchenko. Der ex-Weltklassestürmer von Milan hat sich in den letzten Jahren einen durchaus positiven Namen gemacht, weil er die lange Jahre dahin siechende Nationalmannschaft stabilisiert und entwickelt hat.
Shevchenko ist seit jetzt bald fünf Jahren im Amt und hat schon mehrere Phasen durchlebt. Er wollte anfangs ballbesitzorientiert und dominant auftreten, und das führte u.a. zum Qualifikationsgruppengewinn vor Portugal, doch als das mit hohen Pleiten z.B. gegen Spanien fürchterlich schief zu laufen begann, stellte er um auf Busparkplatz. Doch das wiederum führte zu offensiven Nullnummern. Also ist Sheva jetzt wieder zurück beim alten 4-3-3 mit dem Anspruch, Spielverläufe in die Hand zu nehmen. Gegen bessere Gegner wie Holland wird er eher Fünferkette und 5-3-2 aufbieten.
Hinten gibt es ein paar Fragezeichen, u.a. wer im Tor spielen soll. Ebenso fehlt – wir sind wieder beim rekurrierenden Thema des Turniers – ein Mittelstürmer von internationalem Format. Oder kann der 20-Tore-Mann aus Genk, Roman Yaremchuk, die Rolle übernehmen? Yaremchuk ist eigentlich ein Left Winger, kann aber auch zentral spielen.
Aber im Mittelfeld hat Shevchenko Optionen. Die Mittelfeldzentrale mit Taras Stepanenko, Oleksandr Zinchenko (der bei ManCity auch Außenverteidiger spielt) und dem Box-to-Box Player aus Atalanta, Ruslan Malinovsky, ist sehenswert. Gerade Malinovsky ist zum Saisonende hin extrem gut in Form gekommen.
Dafür gibt es Fragezeichen am Flügel, wo der nominell bekannteste ukrainische Spieler Andriy Yarmolenko verletzungsbedingt in der letzten Saison keine vier vollen Spiele an Einsatzminuten absolviert hat und Yaremchuk wie wir gelesen haben, möglicherweise nach innen gezogen wird.
Nordmazedonien
Bleibt der krasse Außenseiter. Der Deutschland-Schreck hat die Qualifikation meines Verständnisses nach durch die Nations League geschafft – gegen Gegner wie Gibraltar, Armenien, Kosov, Georgien oder Liechtenstein, bevor man im Frühjahr Jogi Löw mal so richtig überrumpelte.
Nordmazedonien ist vielleicht der größte Außenseiter im ganzen Turnier – hat aber das Glück, in der einfachsten Gruppe zu spielen. Völlig ausschließen würde ich eine Überraschung nicht, auch wenn es nur wenige spielerische Glanzpunkte gibt.
Headcoach ist der streitbare Igor Angelovski, der wahlweise Dreierkette, Viererkette und Fünfterkette spielen lässt, aber man sollte sich davon nicht blenden lassen und einen innovativen, flexiblen Coach erwarten: Angelovski gilt als ziemlich konservativ. Er stellt Spieler über das System. Der Kern der Mannschaft ist bei ihm seit Jahren gesetzt und bleibt immer zusammen.
Angelovski ist in den letzten Monaten vermehrt mit Grabenkämpfen gegen den eigenen Verband abgelenkt und stand dem Vernehmen letzten Herbst direkt vor den entscheidenden Quali-Spielen kurz vor einer Entlassung – doch dann drohten die wichtigsten Spieler um Volksheld Goran Pandev mit einer Meuterei, und Angelovskis Platz war erstmal gesichert. Wie lange, weiß man nicht: Der Verband verlängerte seinen Vertrag um ganze sechs Monate bis Ende 2021.
Nordmazedonien wird defensiv stehen und Konterfußball mit schnellem Umschalten spielen. Die Außenverteidiger und das technisch versierte zentrale Mittelfeld werden dabei die Stützen sein. Vorne drin soll der mittlerweile 38-jährige Pandev zum letzten Halali blasen, weil der wichtigste Stürmer, Ilja Nestorovski aus Udinese, verletzt fehlt.
Die beiden Schlüsselspieler, die sich der Laie merken kann, sind der Kreativkopf und Freistoßschütze Enis Bardhi, und vor allem der 21-jährige Wirbelwind Elijf Elmas. Elmas gilt als sowas wie Pandevs Ziehsohn. Wenn der eine über den anderen spricht, dann wirkt das wie Blutsbrüderschaft. Elmas ist ein fantastischer Dribbler, und er gilt als ziemlich reif. Bei Napoli war er monatelang im viel zu starren System vom mittlerweile entlassenen Gennaro Gattuso blockiert, doch in der Nationalmannschaft lässt ihm Angelovski alle Freiheiten.
Eben Spieler > System. Zusammenhalt, mannschaftliche Geschlossenheit, Fragezeichen bei den Gruppengegnern: Ganz ausschließen würde ich die eine oder andere Überraschung der Mazedonier nicht.
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