Die EM 2021 ist vorbei. Italien ist der Champion.
Ich kann nicht behaupten, dass ich nicht von Anfang an vor der Klasse der italienischen Mannschaft gewarnt hätte. Sie ist im Gesamtkontext des Turniers auch ein Champion, der sich „richtig“ anfühlt, auch wenn die Mannschaft gerade in den Playoffs immer wieder gewackelt hat.
Gegen Österreich verloren die Azzurri mehr als eine halbe Stunde lang böse den Faden und wären fast sensationell gescheitert. Gegen Belgien gewannen sie mit starker Leistung, aber es hätte durchaus bei einigen Gegenstößen auch anders laufen können. Gegen Spanien wurde das Team über 120 Minuten ehrlicherweise ziemlich „out-classed“ und fand gegen einen überlegenen Gegner überhaupt nicht zu ihrem Faden, aber in den wenigen Offensivmomenten waren die Italiener dann doch wiff genug um ständig Gefahr auszustrahlen.
Im Endspiel schließlich groovte sich Italien nach überrumpeltem Beginn gegen einen total passiven Gegner nach einer halben Stunde ins Spiel und übernahm gegen einen immer ängstlicher werdenden Gegner schrittweise die Kontrolle.
Ja, es war zweimal Elfmeterschießen. Aber Italien hat in diesem Turnier das gehalten, was ich mir von dieser Mannschaft versprochen hatte – und hat selbst das Spiel gestaltet:
Ich habe die Azzurri 25 Jahre lang leidenschaftlich verabscheut. Die aktuelle Ausgabe aber ist die erste, an der ich mich erwärmen könnte. Ich hab noch keine Ahnung, wie das in mir drinnen morgen gegen die Türkei aussehen wird, aber grundsätzlich mag ich den Spielstil. Weniger Zynik, dafür viel Eigeninitiative. Es ist der richtige Weg, den Italiens Fußball eingeschlagen hat – und wie es so ist im Fußball: Es ist immer besser, wenn die große Nemesis relevant ist. Denn das erhöht die Stakes.
Italien ist nicht Topfavorit, aber prinzipiell ist das ein Team, dem ich den Titel zutrauen würde. Die glänzende Serie von nur zwei Niederlagen in über 30 Spielen unter Mancini täuscht zwar ein wenig über die Tatsache hinweg, dass Italien kaum hochkarätige Gegner gespielt hat, aber da ist eine Stabilität im Team vorhanden, die über das gewohnte typisch italienische Sicherheitsspiel hinausgeht.
Ich war immer wieder drauf und dran, zum ersten Mal in meinem Leben Frieden mit dieser meiner Nemesis zu finden. Doch dann geriet ich auf dem Heimreise nach dem Belgien-Spiel in ein Autokorso mit all dem nationalistischen Scheiß, und wusste fortan wieder, warum ich im Fußball eigentlich immer gegen Italien bin.
Doch leider kann man in einem Endspiel nicht beide verlieren lassen.
Denn fast mehr noch als gegen Italien bin, bin ich gegen Mannschaften mit einer Spielanlage wie England: Rein auf Defensive bedacht, null Inspiration nach vorne, null Adaptivität. Ich kann solche zynischen Mannschaften bald nicht mehr hassen, denn irgendwann schalte ich mangels Unterhaltung nicht mehr ein.
Auch das hatten wir schon in der EM-Preview: Vorbilder dieses Teams waren die beiden letzten Turniergewinner Portugal 2016 und Frankreich 2018:
Seinen Kommentaren in den letzten Wochen und Monaten nach zu urteilen, ist das auch ganz im Sinne von Coach Gareth Southgate. Southgate, bei dem ich mich nicht von dem verschossenen Elfer gegen Andi Köpke im EM-Semifinale 1996 lösen kann, den ich als kleiner Bub einst in einem Hotel an der Adriaküste sah, nannte immer wieder Portugal und Frankreich als seine Vorbilder.
Die haben die letzten beiden Turniere gewonnen – und zwar nicht mit begeisterndem Hurra-Fußball, sondern mit extremer Disziplin und schwer zu überwindendem Abwehrbollwerk. Diese beiden Mannschaften eint, dass sie vorne individuell herausragend besetzt waren (und noch immer sind). Der englische Kader gibt das prinzipiell auch her.
Southgate als Coach ist allerdings nicht der große Taktiker wie ein Fernando Santos, und stand bis jetzt zumindest nie im Ruf so abgewichst zu coachen wie ein Didier Deschamps. Er ist vielmehr der Typ Coach, der mit seiner Eloquenz den Kader bei Laune hält.
So weit, so treffend. Bloß war England 2021 noch schlimmer als die Franzosen, die zumindest in den wenigen Momenten, in denen sie aktiv spielten, atemberaubend gut anzuschauen sind. Ich verachte die fußballerische Auslegung von Gareth Southgate. Dass ich im Endspiel für England war, lag an allen anderen Gründen, aber nicht am englischen Spiel.
Ich hoffe, dass die Fehlschützen im Elfmeterschießen Rashford, Sancho oder Saka keine allzu heftigen verbalen Prügel in der Öffentlichkeit bekommen. Das wäre total bitter, denn die Überschrift über das Endspiel kann man in einem Wort zusammenfassen:
Vercoacht.
Southgate mag eine zerstrittene Nation geeint haben und der zweiterfolgreichste Coach der englischen Fußballgeschichte sein, doch trotz zweier in Resultaten erfolgreicher Turniere ist es eine optisch grausige „Ära“.
England hatte im Endspiel den Gegner am Boden, hat das schnelle 1:0 gemacht… und sich dann nach zwei Minuten vom Held des Handelns getrennt. Anstatt wie „Peak Bayern“ einen am Boden liegenden Gegner endgültig zu erledigen, schaltete England ganz im Sinne Southgates in den „play the field position“ Modus: Verwalten anstatt gestalten.
Mit der Strategie von „play to not lose“ gab England ein sicher kontrolliertes Spiel aus der Hand. In der zweiten Halbzeit spürte man förmlich, wie dem Stadion erst jegliche Energie entzogen wurde, ehe es in blanke Angst umschlug.
Während Roberto Mancini mit jedem Wechsel taktische Umstellungen machte (Lieblingsschüler Barella gegen Nobody Cristante ausgetauscht, dann erst mit Immobile den Mittelstürmer runter genommen und dann später mit Belotti wieder gebracht), war England nur noch ein Hauch von Nichts.
Dass Southgate erst in der letzten Minute der Verlängerung Offensivgeister wie Rashford oder Sancho AUSSCHLIESSLICH FÜR DAS ELFMETERSCHIESSEN brachte, und diesen das ganze Turnier über quasi ignorierten Jungspunden die Bürde vom Elferschießen in einem großen englischen Spiel mit all der negativen Historie aufbürdete, passte eigentlich zu gut dazu, wie ich Southgate als unflexiblen, statischen Coach wahrnahm.
Wie man richtig coacht
Mancini ist das Gegenteil. Er erteilte Southgate eine Lehrstunde. Der italienische Titel geht zu einem sehr großen Teil auf Mancini. Man darf sich ruhig vor Augen führen, dass in dem Qualifikationsspiel 2017, in dem Italien von Schweden zum ersten Mal nach 60 Jahren vor der WM ausgeschaltet wurde, sechs Spieler mitspielten, die gestern den EM-Titel holten.
Im Wesentlichen hat Mancini Leute wie den jungen Tormann Gigio Donnarumma, den fantastischen Flügelspieler Federico Chiesa oder den Mittelfeld-Läufer Barella eingebaut. Doch jetzt ist der ganze Spielstil der Italiener ein völlig anderer. Italien spielt noch immer gut organisiert – denn gute Organisation liegt in der DNA von Fußball-Italien (leider nicht in der DNA von Rest-Italien). Bloß ist jetzt gute Organisation der Italiener auch im Spiel nach vorn und nicht bloß in reiner Defensivarbeit verankert. Das Italien der Vergangenheit wäre nicht unähnlich dem England von heute gewesen. Das Italien von heute spielte auch nach dem 1:1 munter weiter.
Donnarumma wurde zum Spieler des Turniers gewählt, was ich als etwas unpassende Wahl verstehe. Eine so coole Socke wie Donnarumma mit seinen 22 Lenzen bereits ist, und so gut Donnarumma auf der Linie ist: Fußballerisch haben wir nicht erst im Spanien-Spiel gesehen, dass da noch mehr geht.
Die Innenverteidigung stand größtenteils sicher und war die eigentliche Basis. Bonucci als Abräumer und Spieleröffner, Chiellini als unermüdlicher Antreiber und „emotional leader“ sorgten nach wie vor dafür, dass man sich vorne den einen oder anderen Bolzen erlauben kann ohne sofort in die Bredouille zu geraten.
Der nach vorne geschobene Linksverteidiger ist seit ein paar Jahren das Markenzeichen der Mancini-Azzurri schlechthin, und Spinazzola hat diese Rolle extrem gut interpretiert. Aber selbst nach Spinazzolas Ausfall im Viertelfinale blieb Mancini im Kern bei der Philosophie dieser etwas „schiefen“ (deutsche Analysten haben es „asymmetrisch“ getauft) Ausrichtung, die es dem etwas eindimensionalen, aber stets gefährlichen italienischen Left Winger Insigne immer wieder erlaubt, nach innen zu ziehen und seine schnellen Haken und Fernschüsse zu versuchen.
Rechts war Di Lorenzo ein Schwachpunkt, doch die technisch astreine Mittelfeldzentrale um Verratti, Jorginho und eben dem immer wieder vorne reinstoßenden Barella half, das Problem zu kaschieren. „My Guy“ Manuel Locatelli wurde im Verlauf des Turniers immer mehr zum Rollenspieler, der erst Mitte der zweiten Hälfte gebracht wurde um mehr Vertikalität ins Spiel zu bringen.
Im Sturm war Immobile wie erwartet ein Fremdkörper – wir wussten bereits vor dem Turnier, dass Immobile per se nicht zu diesem Spielstil passt. Dafür war Chiesa sogar besser als meine (hohe) Erwartung und gehört in die All-Star-Auswahl des Turniers. Chiesa war einer der prägenden Figuren des Endspiels.
In Summe war es ein Italien, das je besser wurde, je weiter aufgerückt das Team spielen konnte. Es gab keinen herausragenden Einzelspieler, aber als Kollektiv war die Mannschaft fantastisch. Der Zusammenhalt war extrem gut – man merkte es nicht nur in den Interviews, sondern auch z.B. daran, wie jede gelungene Defensiv-Aktion frenetisch gefeiert wurde. Ich habe in den letzten Monaten mit zu vielen deprimierten Italienern gesprochen als dass ich glaube, dass dieser Titel die Stimmung in unserem gebeutelten Land nachhaltig heben wird, aber für ein paar Tage können wir uns nun dieser Illusion hingeben.
Sacchis Geist schwebt über allem
Ich muss auch noch betonen, dass es nicht Mancini allein war. The Athletic hat den Weg des italienischen Fußballs in den letzten zehn Jahren ganz gut nachgezeichnet. Angefangen von der Erkenntnis, dass die Generation der WM-Heros von 2006 auf ihr Ende zugeht und dass die globale Entwicklung im Fußball eine positive, offensive Richtung eingeht, wurde unter Federführung der Arrigo-Sacchi-Schule begonnen, italienische Fußballschulen philosophisch umzustellen und kreativeres, offensiveres Spiel zu fördern.
Erstaunlicherweise blieb der Verband trotz aller Rückschläge des letzten Jahrzehnts (WM-Vorrundenaus 2014, Rücktritt vom genialen c.t. Antonio Conte nach dem guten Abschneiden 2016, Nicht-Qualifikation 2018) immer stramm beim eingeschlagenen Weg. Mancini formte aus dem geschürften Spielerpersonal nun das entsprechende Europameister-Team. Italien 2021 ist sportlich kein herausragenderer Champion als vorangegangene Teams. Aber sicherlich einer der markanteren.
Was ist sportlich aufgefallen?
Es war nicht nur Italien. Allgemein waren Teams mit auch für Laien erkennbaren Handschriften bei dieser EURO erfolgreich. Das hat das Turnier insgesamt sehenswert gemacht. Vielleicht war es das beste Turnier seit ich Fußball schaue.
Teams wie Italien (Tikitalia, gut organisierte offensive Ausrichtung) oder Spanien (Passgewichse bis zum Umfallen) haben es weit gebracht und u.a. besser besetzte Teams wie Belgien souverän geschlagen. Mannschaften wie Dänemark mit ihrem vielseitigen und doch direkten Weg nach vorn oder aber auch England mit seiner erzkonservativen Defensive und der Hoffnung auf zündende Spielzüge in der Offensive sind ähnlich weit gekommen. England hat bei aller Kritik kein einziges Tor aus dem laufenden Spiel heraus kassiert und geriet bis zum Endspiel nie in wirkliche Gefahr.
Chaotischere Teams wie Deutschland oder Portugal hatten dagegen Probleme. Die Türkei war als einzige andere wirklich defensivschwache Mannschaft komplett lost. Den Belgiern reichten superbe Einzelkönner und ein paar strahlend lichte Momente um trotz insgesamt banaler Vorstellung ins Viertel- und fast ins Halbfinale zu kommen.
Es gibt natürlich bessere, tiefergreifende Quellen als Sideline-Reporter, aber in Stichpunkten sind mir folgende Themen aufgefallen:
- Das technische Niveau ist mittlerweile auch bei mittelmäßigen Mannschaften erstaunlich gut. Stoppfehler sind eine Rarität, lange Spielverlagerungen waren ein oft gewähltes Mittel gegen das 5-3-2/3-5-2, hatten oft angenehm scharfe tiefe Flugkurve und flogen viel seltener ins Nirvana als dass sie zentimetergenau auf dem Fuß landeten und souverän heruntergepflückt wurden.
- Das Tempo war überwiegend 70-80 Minuten lang gut, ließ dann aber nach. Die Verlängerungen waren fast alle zähe Angelegenheiten mit stehend k.o. kriechenden Mannschaften. Das siebte Turnierspiel fühlte sich für die beiden Finalisten physisch und mental als das eine zu viel an.
- Die fünf bzw. inklusive Verlängerung sechs Wechsel mit den drei (vier) Wechselfenstern sind ein Modell für die Zukunft. Sie erlauben mehr taktische Variabilität und helfen der Physis der Spieler.
- Der VAR kriegt viel Kritik, aber ich sehe ihn fast ausschließlich positiv. Es gibt ein paar Verbesserungspotenziale wie etwa das Handling des englischen Elfers gegen Dänemark aufdeckte. Aber summa summarum wird mir der Status quo des VAR in der Öffentlichkeit viel zu negativ diskutiert.
- Zeitschinden ist kein rein südländisches Phänomen mehr. Es machen irgendwo alle. Und es war bis auf wenige Ausnahmen weniger schlimm als manches Mal in der Vergangenheit.
- Wir sind soweit, dass ein langer Abschlag von hinten raus eine Auffälligkeit geworden ist. Selbst Teams wie Ungarn sind nicht völlig unbedarft und imstande, den Ball mit kurzen Pässen über die Mittellinie zu kombinieren.
- Offensivstarke Außenverteidiger waren auch bei diesem Turnier ein dominantes Thema. Leute wie Spinazzola (Italien), Shaw (England) oder Maehle (Dänemark) waren echte Entdeckungen. Spinazzola hatte ich ganz ehrlich nicht so stark auf dem Zettel gehabt. Er war einer der Superstars des Turniers.
- Pressing wurde von viel mehr Mannschaften als gedacht koordiniert gespielt. Damit hatte ich mit der Mini-Vorbereitung ehrlicherweise nicht gerechnet.
- Sogar Standardsituationen wie Einwürfe, Eckbälle oder Freistöße regen mittlerweile beim einen oder anderen Team zu etwas Kreativität an. Die Schere geht jedenfalls auseinander. Mannschaften wie Dänemark haben verschiedenste Freistoß- und Eckenvarianten im petto. Einige wie England wissen sogar Einwürfe zu nutzen. Andere agieren völlig kopflos und brauchen minutenlang für den Einwurf und werfen ihn mangels Anspielstation noch immer zum Gegner.
- Das Turnier hat mal wieder gezeigt, welche Rarität richtige komplette Mittelstürmer wie Lewandowski, Kane oder Lukaku sind. Es hat aber auch gezeigt – hallo, Deutschland! – dass es nicht unbedingt eines Star-Mittelstürmer bedarf, wenn man vorne mitspielen möchte; Italien z.B. war mit Immobile/Belotti auch nicht besser besetzt als die deutsche Elf.
- Weitschüsse. Insgesamt wenige Teams, die auch mal von ganz draußen schießen – aber die es versucht haben, wurden immer wieder belohnt (Italien, Schweiz)
Die besten Momente des Turniers
Der Gavranovic-Ausgleich in der letzten Minute gegen Frankreich war für mich der Moment des Turniers. Er war nicht nur super gespielt, sondern weckte zum ersten Mal wirklich das Gefühl, dass die von mir so verachtete französische Mannschaft wirklich fliegen könnte.
Die Schweizer Elfmeter gegen Frankreich. Maguires Elfer im Endspiel gegen Italien (!!!).
Deutschlands Auftritt gegen Portugal. Die deutsche Mannschaft war in Summe eine krasse Enttäuschung, doch gegen Portugal hatte sie 1-2 Schwachstellen beim Gegner gefunden und nutzte diese rücksichtslos aus. So muss man spielen! Hätte England das Endspiel mit demselben Mindset bestritten, wir würden jetzt über einen anderen Europameister sprechen.
Dänemarks 4:1 gegen Russland. Es war einfach, mit den Dänen zu fühlen. Gegen Russland schossen sie sich mit fantastischen Treffern (Christensen-Fernschuss nach abgewehrter Ecke) nicht bloß die schweren Herzen von der Seele, sondern öffneten auch das Tor zu einem bemerkenswerten Playoff-Run.
DeBruynes Treffer gegen Dänemark. Für mich trotz einiger anderer sehenswerter Weitschüsse und trotz Benzemas Treffer gegen die Schweiz das Tor des Turniers – weil am besten herausgespielt.
Das Endspiel hatte leider erbärmlichen Unterhaltungswert. Aber das konnte den insgesamt starken Eindruck des Turniers nicht mehr trüben. Die beiden besten Spiele in meiner Hitliste waren Schweiz – Frankreich und, obwohl von beiden Teams nach Schema F runtergespielt, Spanien – Italien. Beide schaffen es in oder nahe an die Top-5 der besten Playoffspiele der letzten zehn Jahre.
Einen echten Spieler des Turniers kann ich nicht benennen. Donnarumma, der den offiziellen Titel bekam, war vielleicht noch nicht mal der insgesamt beste Torwart. Chiesa hat zu selten gespielt – wie auch Chiellini. Pogba ist zu früh ausgeschieden und war nicht so makellos wie er mancherorts gemacht wird, Lukaku zu viel Sekundengenie, Sterling war im Finale ein Totalausfall. Der wahre Star des Turniers war Mancini. Aber können wir wirklich einen Coach zum MVP küren?
Was ist medial aufgefallen?
Qualitätssprung im deutschen TV. Es ist lange her, dass ich mehr als ein paar Minuten Rahmenberichterstattung pro Spiel im deutschen Fernsehen gesehen habe. Im Vergleich zur italienischen Alternative hat das deutsche Fernsehen dort einfach über Jahre null Mehrwert gebracht.
Doch zu diesem Turnier hat sich etwas geändert – zum Positiven. Co-Kommentierungen wie Sandro Wagner waren erfrischend und haben ungewohnte Insights ermöglicht. Im Studio hat sich ein Christoph Kramer in meiner Weltsicht extrem profiliert. Kramer war einer der Stars des Turniers. Was ich auch mega fand: Almut Schult, die als Expertin spannende Einblicke ins Torwartwesen gewährte.
Sind die Zeiten von Mentalität, Tugenden und Mehr Wollen echt langsam vorbei? Dann call me in. „Analyse“ musste man früher stets unter Anführungszeichen setzen. Jetzt nicht mehr. Bei solchen Fortschritten sehe ich dann auch wohlwollend an der Augenkrebs erregenden Hässlichkeit eines ZDF-Studios vorbei.
Frauenpower. Schult war nur eine von mehreren Frauen mit guten Auftritten. In Österreich moderierte eine Frau das Studio, und in Italien kommentierte eine Frau als echte Co-Kommentatorin nicht bloß belanglose Vorrundenspiele, sondern das Finale mit Italien. Ihre Kommentierung reichte zwar inhaltlich noch nicht an die besten der gewohnten Experten heran, doch das tut erstmal wenig zur Sache.
Advanced Stats. Die Modellierung eines flüssigen Spiels wie Fußball ist zweifelsfrei eine komplexere Aufgabe als z.B. American Football, und doch tut sich auch in der Branche von Advanced-Analytics etwas. Ich hatte darüber schon letztes oder vorletztes Jahr in meiner Rezension des Buches von „Football Hackers“ geschrieben.
Expected Goals (xGoal) war eine auf Twitter omnipräsente Statistik, und auch wenn sie nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zu besseren Statistiken ist (sie zieht aktuell nur effektive Abschlüsse in Betracht, keine Fast-Abschlüsse), so ist das ein guter Schritt in die richtige Richtung.
Auch die Passing-Grafiken von Between-the-Post empfand ich als großen Mehrwert. TheAnalyst.coms Statistik der „high turnovers“ dagegen bedarf einiger Interpretation.
Fußball ist als Spiel auf hohem Niveau ziemlich random, weil sehr wenige Events über den Ausgang von 90 Minuten intensiver Auseinandersetzung entscheiden. Die einzelnen „Episoden“, die Spiele entscheiden, sind oft genug noch nichtmal Teil des eigentlichen roten Fadens des Spiels. Entsprechend überstrahlt das Ergebnis die Performances am Feld oft zu überstrahlen.
Doch Quellen wie der wirklich fantastische Rasenfunk-Podcast oder die „Tagebuch-Kolumne“ von Tobias Escher schaffen es Schritt für Schritt, auch ein breiteres Publikum anzusprechen, und das ist nur gut, wenn ich daran denke, wie wenig ernst das „Establishment“ im sonntäglichen Doppelpass eine frische Stimme wie Lukas Vogelsang nahm.
Ebenso ein Gewinn: Der „Players“ Podcast vom Deutschlandfunk.
Don’t mix Politics with Sports
Oder so ähnlich.
Man kann eigentlich gar nicht oft genug betonen, wie crazy die Storylines rund um diese EM eigentlich waren. Eine EURO, die inmitten einer Pandemie kreuz und quer über Europa stattfinden soll. Beginnend fast ohne Publikum („wir haben Verantwortung“), und am Ende mit vollen oder fast vollen Stadien.
Die Ausbootung von Städten wie Dublin oder Bilbao. Die Anmache der Regime in Aserbaidschan oder Ungarn. Die Diskussionen um die Armbinde von Manuel Neuer und die nachfolgenden Regenbögen über Europa. Die Münchner Stadtverwaltung mit ihrer Eintagsregenbogenfliege. Die auf den Zug aufspringenden Sponsoren – und die Blockade der Sponsoren in Baku und Budapest.
Cristiano Ronaldo gegen Coca Cola. Pogba gegen das Bier. Der Kniefall von Engländern und Belgiern. Das Pfeifkonzert in Russland (Russen und Amerikaner sind sich ähnlicher als sie denken!). Die Schwarzhemden von Orban. Die Kritik am vollen Stadion in Budapest und das Schulterzucken beim halbvollen in Kopenhagen.
Die seltene Einigkeit von Regierung und Opposition in England, auf die Forderungen der UEFA nach Öffnung und Sonderrechten für die Eliten nachzugeben. Der Greenpeace-Flieger von München. Arnautovics Beleidigung gegen einen Mazedonier. Die abgenommene Fahne in Baku.
Wir hatten locker einmal Sport & Politik pro Tag. Und das macht dieses EURO-Turnier zum bisher „politischsten“, das ich erlebt habe. Das ist einerseits gut, denn endlich wird die Bühne Sport auch für wichtigere Themen genutzt. Andererseits riskierten wir fast den Overkill, z.B. weil der stille Protest gegen den Alltagsrassismus zu einem Thema unter vielen verkommt.
Doch solange der Rubel rollt, werden Steuerprivilegien und Hofieren der Verbandsbonzen in den UEFA und FIFA-Zentralen andauern. Ich nutze damit ausgangs dieses heutigen Eintrags noch die Möglichkeit auf die wirklich extrem gute Rasenfunk-Folge mit Ronny Blaschke zum Thema „EM der Autokraten“ hinzuweisen. Es ist eine der facettenreichsten, detailliertesten Diskussionen zum Thema, die ich bislang gehört habe.
Next Up
Das war’s dann mit der EURO. Eine Empfehlung an dieser Stelle noch gegen das anstehende Sommerloch: Anne With an E ist die beste Serie auf Netflix, von der du noch nichts gehört hast. Offen gestanden mag es die beste Serie überhaupt sein. Ich hab Rotz und Wasser geheult und mich trotzdem nicht sattsehen können an dieser wundervollen Story mit der atemberaubenden Hauptdarstellerin Amy-Beth McNulty.
Wir lesen uns, wenn mich der Football wieder zu jucken beginnt. Also hoffentlich bald.
Danke für die Begleitung zur EM.
Frage zum Football: Ist die ELF für Dich ein Thema oder ist es der „Esume-Zirkus“ nur wert, nicht beachtet zu werden?
Nein, die ELF ist für mich kein Thema, sowohl inhaltlich als auch zeitlich nicht passend für mich.
Ich habe seit 1988 nicht mehr so wenig von einem großen Turnier gesehen, es war keine komplette Partie dabei.
Es hat mich nicht annähernd gereizt was zu sehen. Das meiste was ich gesehen hab, war wenn der Zwerg eingeschlafen war und meine Frau gucken wollte.
Das wäre noch vor vier Jahren undenkbar gewesen, aber ich bin immer angewiederter von dem ganzen Fußball – Zirkus.
Eigentlich schade… Hoffentlich schlägt es nicht auf mein Interesse an aktiven Fußball über…
Ich möchte der Vollständigkeit halber noch eine (kleine) Lanze für Southgate brechen: Im Finale gegen die italienische Viererkette die englischen Außenverteidiger nach vorn zu ziehen, das war eine schöne Idee. Und hat die Italiener anfangs mehrfach in Defensivtumult gestürzt.
Southgate mag defensiv und an der Grenze zur Schwachsinnigkeit passiv coachen, aber er coacht. Er lebt nicht ausschließlich vom Mannschaftstalent, wie es in manchen Medien übertrieben dargestellt wird.
(ja, aus der Mannschaft hätte man mehr rausholen müssen. Insbesondere offensiv. Von Sancho&Co zu schweigen.)
Fazit aus menschlicher Sicht:
Unterm Strich sehe ich diese EM als Schnapsidee.
Meiner Meinung nach wäre man gut beraten gewesen die EM zu verschieben oder zumindest auf ein einziges Land zu beschränken. Der Frust von Selbständigen, Gastronomen oder Einzelhandel muss immens sein, wenn 65.000 (großteils alkoholisierte) Menschen in enge Stadiongänge gepresst werden, aber die existenziell bedrohten Gastwirte einen Großteil der Plätze frei halten und Abstand/Maske/Test einfordern sollen. An deren Stelle wäre ich stinksauer. Das könnte ein heißer Spätsommer werden.
@Dizzy: in der ganzen Debatte um volle Stadien geht schlicht unter, dass es hier einfach auch um unterschiedliche Länder geht. Ich kenne die Regelungen in Großbrittanien aktuell nicht im Detail. Aber dort ist schon deutlich länger deutlich mehr zulässig als hier in Deutschland. Man kann ja davon halten was man will, ob dieser Weg jetzt gut oder schlecht ist… aber was Gastronomen in Deutschland dürfen und was nicht und ob sie sich ungerecht behandelt fühlen von den Verordnungen der deutschen Regierung, hat halt nix damit zu tun, was Regierungen in anderen Ländern für ihr Land entscheiden.
Na ja ich fand die EM cool sie war trotz Corona doch ansehnlich und auch mega spannend.
Das EM Finale haben über 20 Mil gesehen ohne Deutsche Beteiligung. Was nächstes Jahr mit der Katar WM sein wird kann man nur erahnen, mitten im Winter ich denke dieses Turnier wird wirklich boykottiert. Jetzt freue ich mich wieder auf Football mit vollen Stadien ohne Hooligans und Familien freundliche Atmosphäre.
Meine Wahrnehmung der EM ist wie bei dizzy so sehr von Corona geprägt, dass ich sie nur als skurriles Schauspiel sehen konnte. Der unbeholfene Umgang der UEFA mit den politischen Fragen im Laufe des Turniers tat sein übriges, und so ging es mir am Ende wie Martin: ich hatte wenig Lust auf die Spiele.
Aufgefallen ist mir in erster Linie der Modus mit 24 Mannschaften, auch wenn der nicht neu war. Aber die Diskussion um die Anzahl der Spiele im Kalender und der frühe Ligastart um langsam Platz für die WM im Winter zu machen haben dazu geführt, dass ich dieses Mal drauf geachtet habe. Und auch wenn es meiner ersten ersten Meinung widerspricht muss ich am Ende sagen: dass in der Gruppenphase wenige Mannschaften ausscheiden hat in meinen Augen nicht zu weniger relevanten Spielen geführt. Ich fand es gut, dass sich die Dänen ins Turnier kämpfen konnten und dass die seltenen EM Gäste gefühlt auch am letzten Spieltag noch Chancen aufs Achtelfinale hatten.
Und Mannschaften wie Nordmazedonien und Finnland waren eine Bereicherung, deutlich besser als die Ausfälle aus Russland und der Türkei.
Zwei/drei Enttäuschungen aus den Reihen der üblichen Teilnehmer hat man idR bei jedem Turnier, da finde ich es schön wenn Außenseiter die gerade eine Lauf haben als Ausgleich dabei sind.
Ansonsten: Zuwenig Lust aufs Fußball gucken gehabt (s.o.) um über die Spiele und Mannschaften etwas sinnvolles in der Tiefe sagen zu können.
Off-topic (wobei… es ist Football, von daher für den Blog eigentlich on-topic):
Ist es nicht seltsam, dass manche Franchises serienmäßig mit höchsten Picks schwache QBs draften und die Chargers nach einem legendären Philip RIvers nun in Justin Herbert den nächsten granatenstarken Prospect haben? Das kann doch nicht nur Glück sein?
(Ich komme drauf, weil Mahomes die Tage etwas über Herbert gesagt hat, was Herberts starke Rookie-campaign wieder in den Fokus bringt)
@Dizzy
Die Chargers haben davor auch noch eine Legende gezogen. Drew Brees. Gut er wurde in New Orleans zur Legende.
@Dizzy
Die Chargers haben davor auch noch eine Legende gezogen. Drew Brees. Gut er wurde in New Orleans zur Legende.
Ich bin einfach nur froh das der Mist vorbei ist. Genau wie die Bundesliga ist der ganze Zirkus einfach nur noch langweilig. Dazu das ganze beschämende Verhalten der UEFA und FIFA….
Merci zum Serientip – Anne With an E-
eine wirklich wundervolle Story mit der atemberaubenden Hauptdarstellerin Amy-Beth McNulty.
Bin gerade mit allen Folgen durch – die Serie ist einfach anders – und vor allem ent-spannend.
Auch Off–Topic😳
https://bleacherreport.com/articles/10008313-texas-oklahoma-reportedly-reach-out-to-sec-with-interest-in-joining-conference