Trotz Aaron Rodgers und den Extremisten in Houston: Gibt es ein Team mit einer verrückteren Offseason als die Jacksonville Jaguars?
Die Bestellung von College-Trainerlegende Urban Meyer zum Chefcoach (siehe hier Teil 1, Teil 2 und Teil 3 unserer Lead-Blogger-Analyse).
Die Einstellung von Trent Baalke als Pseudo-GM.
Es ging weiter mit dem rassistischen Konditionstrainer aus Iowa (Chris Doyle), der nach nur einem Tag wegen großem medialem Aufschrei schon wieder Geschichte war.
Im Draft zog man einen 1st-Round-Runningback – die Kardinalssünde im Team Building.
Zum ersten Trainingslager probierte man diesen Back (Travis Etienne) als Receiver und verpflichtete Tim Tebow als Tight End.
Tebow ist seit kurzem schon wieder Geschichte. Mit Tebow konnten die Jags zwar kein „Leistungsprinzip“ etablieren, aber das geht eh schwer, wenn man einem Brian Schottenheimer den x-ten Trainerjob anbietet (Schotty ist QB-Coach). Aber im Schatten des Trubels um Tebow konnte man vielleicht immerhin gezielt an der neuen Offense arbeiten.
Immerhin ist der OffCoord Darrell Bevell legit. Meyers vor 15 Jahren implementiertes Spread/Option-Rushing-Scheme ist nicht NFL-tauglich. Bevell verfügt über viele Jahre Erfahrung als NFL-Coordinator, und hatte in Seattle und Detroit sehr gute Momente.
Bei so viel Chaos grenzt es fast schon an ein Wunder, dass die Jaguars mit ihrer wichtigsten Ressource das Konventionelle gemacht haben: Trevor Lawrence als #1 im Draft zu ziehen.
Lawrence ist auch der größte Hoffnungsträger, dass diese dahinsiechende Mannschaft bald wieder relevant ist.
Erstmal geht es von sehr weit unten los:
- Bilanz 2020: 1-15
- Pythagorean: 3.7 Siege (#31)
- Close Games: 1-5
- Offense EPA/Play: -0.05 (#28)
- Defense EPA/Play: +0.17 (#30)
- Turnovers: -8
- Fumble Luck: 42% (#24)
- Adjusted Games Lost: #10 (OFF #6, DEF #19)
Meyer hatte am College etwas Van-Gaalsches, nämlich den Ruf, Mannschaften in Windeseile zu einen und gerade mit jungen Teams schnell über den Erwartungen zu spielen. Bei aller Kritik an Meyer: Er packte schnell an, verschwendete keine Zeit mit faulen Ausreden und war sofort konkurrenzfähig.
Der Depth-Chart sah vor ein paar Tagen passend zur Offseason ziemlich verrückt aus, mit Gardner Minshew over Lawrence sowie Etienne und C.J. Henderson als third stringer eingelockt:
Offense
Das look&feel der Jags-Offense ist eines der spannendsten Dinge zu Saisonbeginn. Lawrence bekam so viel Hype für einen QB-Jungspund, da übersah man schon mal, dass er noch kein 10-Year-Veteran mit fünf Probowls ist.
Sondern eben ein Rookie.
Lawrence kannte am College nur die ideale Situation: Super O-Line, super Receiver, stets schnell dominante Führungen. In Jacksonville wird er zwar nicht das Gegenteil erleben, aber doch eine Infrastruktur unterhalb des Durchschnitts.
Die Line ist eher wackelig. In Pass-Block Win-Rate war sie die #25 der NFL, und viele Verbesserungen gibt es nicht. LT Cam Robinson ist mit der Franchise Tag für ein vielleicht letztes Jahr gebunden. Aber der andere Tackle-Spot ist in der Schwebe: Ex 2nd Rounder Jawaan Taylor hat zwei schwache Jahre hinter sich und Walker Little wurde zwar in Runde 2 des heurigen Drafts gezogen, hat aber nach schwerer Verletzung und Covid-Opt-Out zwei Jahre praktisch nicht gespielt. Vielleicht startet auch keiner von den beiden Jungspunden.
Immerhin ist man innen solide: Center Brandon Linder ist ein Guter, LG Andrew Norvell ist sogar sehr gut, und auch RG A.J. Cann ist solide.
Der Receiver-Corps hat „Ansätze” – aber nicht viel mehr. WR1 D.J. Chark hatte seinen Breakout 2019. Er kann tiefe Routen effizient laufen. Marv Jones ist sowas wie der Prototyp eines WR2. Als #1 funktioniert er nicht wirklich, aber er läuft saubere Routen und gewinnt Contested Catches und ist damit eine prima Ergänzung.
WR3 Lavishka Shenault ist als eigener Spielertyp ein Freak. Er hat einen aDOT von wenigen als 7 Yards. Er ist vielseitig und ein Urban-Meyer-Typ. Er könnte theoretisch sogar ähnlich eingesetzt werden wie Runningback Etienne, dessen Einberufung ich bis heute nicht verstehe.
Collin Johnson wäre als Brecher auch durchaus interessant. Er ist hoch aufgeschossen, physisch imposant. Er hat bereits Potenzial angedeutet – aber in obigem Depth-Chart wurde Johnson unter der Woche interessanterweise eher als WR7 denn als WR4 geführt.
Übel sieht es auf Tight End aus. Es gibt dort nur career backups. Dass Tebow keine Chance hatte, selbst diese Positionsgruppe zu knacken, ist übrigens ein versteckter Hinweis darauf, wie viele Super-Athleten es in der NFL gibt – und wie nuanciert die Tight-End-Position eigentlich ist. Manche behaupten, dass TE nach QB die zweitschwierigste Position im Football ist, weil es so viele Macro- und Micro-Aufgaben zu erledigen gilt.
Kurzum: Ein bisschen was ist schon da. Aber es gibt wenig „sichere“ Dinger. Vieles wird dran hängen, wie die Coaches ihr Spielsystem installieren.
Durchaus denkbar, dass Lawrence da einen harzigen Einstand erlebt und erstmal ein paar Wochen lang mental getestet wird. Was wird das mit seinem Selbstvertrauen machen?
Oder schlägt Lawrence so schnell ein wie es all die Lobeshymnen vor dem Draft erhoffen lassen? Kann er wie sein Clemson-Vorgänger Deshaun Watson sofort die Umstellung auf die NFL und die „Lastigkeit der Spielfeldmitte“ in den Griff kriegen und seinen Spielstil entsprechend umstellen?
Oder beginnen die Jags tatsächlich erstmal mit Minshew? Was würde uns das über Lawrence sagen?
Fragen über Fragen.
Defense
Im Schatten der Offense, aber auch nicht unspannend ist die Defense. Der neue DefCoord Joe Cullen kommt aus der Defense-Schmiede Baltimore, und wenn wir in der Personalpolitik ein bisschen zwischen den Zeilen lesen, dann sehe ich da ähnliche Prinzipien wie bei den Ravens.
Run-Stuffer in der Defense: Der eigentlich völlig unbekannte DT Roy Robertson-Harris wurde für relativ dicke Kohle aus Chicago geholt, DT Malcom Brown kommt von den Saints. Beide sind „Clogger“ gegen das Laufspiel über die Mitte.
Linebacker ist in Baltimore schon lange keine Premium-Position mehr. Jetzt auch nicht mehr in Jacksonville: Joe Schobert wurde an die Steelers verscherbelt. Der vielseitige Myles Jack muss den Laden ab sofort im Alleingang schmeißen.
Dazu hat man Zillionen neue Defensive Backs geholt. Da wären einmal die Routiniers CB Shaquill Griffin (ex Hawks) oder S Rayshawn Jenkins (ex Chargers), die Starter-Rollen übernehmen können, und dann wären da noch die beiden Mid-Round-Rookies CB Tyson Campbell und S Andre Cisco.
Die Veterans werden wohl schnell starten müssen. Die Rookies können erstmal gemütlich eingebaut werden.
Was nicht ganz reinpasst: Die Jags bieten angeblich gerade CB C.J. Henderson auf dem Trademarkt an. Henderson war erst letztes Jahr der #9 Overall Pick. Sein Rookiejahr dauerte nur bis Mitte November und wirklich stabil war es nicht. Aber Henderson projected als starker Man-Corner. Eigentlich müssten die Jags unter Cullen nun auch ein Team mit einiger Man-Coverage sein. Klaren Reim kann ich mir auf die Gerüchte nicht machen – außer Henderson ist entgegen allem Anschein eine echte Graupe.
Bleibt der Passrush. An den Flanken sind EDGE Josh Allen und EDGE K’Lavon Chaisson die Gefragten. Chaisson war immer ein boom or bust Prospect. Als Rookie war er näher bei Bust (nur 1 Sack).
Allen machte nur die Hälfte der Spiele und hatte nur 2 Sacks und keine 25 Pressures. Als Rookie war er besser gewesen, mit 50 Pressures bei 12 Sacks. Ideal ist das nicht. Er wird im dritten Jahr einen ähnlichen Leistungssprung brauchen wie sein Namenskollege in Buffalo… dann sind wir plötzlich dick im Rennen.
Ausblick
Jacksonville wird einen deutlichen Schritt nach vorn machen. Ich erwarte eine Bilanz, die näher bei 8-9 als bei 1-15 liegt. Vielleicht wird es 5-12. Oder 6-11.
Aber wenn Lawrence schnell in den Groove findet, kann das in einer insgesamt schwachen AFC South auch zu einer kleinen Überraschung und einer Playoff-Qualifikation durch die Hintertür reichen.
Wer weiß. Solche Teams mit hoch gedrafteten Rookie-QBs sind immer eine Wundertüte. Die Jaguars mit ihren zwischen verrückt und spektakulär oszillierenden Moves und ihren Anpacker-Headcoach Meyer sind es umso mehr.
Erwarten würde ich die Playoffs freilich nicht. Aber ich wäre auch nicht unbedingt überrascht davon.
Danke, top Preview 🙂
Das QB Battle ist offenbar tatsächlich noch nicht entschieden, laut diesem Artikel sind die #1 Team Reps ausgeglichen zwischen Minshew und Lawrence aufgeteilt worden:
https://www.si.com/nfl/jaguars/news/urban-meyer-trevor-lawrence-winning-the-qb-job-hasnt-happened-yet
Wundert mich, dass ein Team einen #9 Pick direkt im nächsten Jahr traden will. Einen QB vielleicht: entweder er ist „the man“ oder nicht. Man braucht ja nur einen. Aber auf CB, wo man 5-6 Leute gleichzeitig aufs Feld schickt? Schräg.
Weiß jemand zufällig, ob solche schnellen Erstrunden-Trades auf CB häufiger vorkommen? Ich erinnere mich an nichts dergleichen.
Nein, solche schnellen Trades (oder Trennungen nach einem Jahr) sind auch bei 1st Roundern auf anderen Positionen extrem ungewöhnlich.
Trent Richardson fiele mir in den letzten Jahren ein. Josh Rosen natürlich.
Reuben Foster und Deandre Baker wurden schnell gefeuert, aber das hatte weniger sportliche Gründe.
Dwayne Haskins hat auch nicht lange überlebt…
6-11 hört sich sehr falsch an… Man ist halt doch ein Gewohnheitstier 🙂
Ja, ich muss auch immer aufpassen, dass da nicht 6-10 steht 🙂
Am einfachsten ist es gerade bei 8-9 oder 9-8, da merkt man es sich sofort.
Und .500 gibt es nicht mehr 😀
8-8-1
Wäre dann doch 0.500?
Wobei ich mir da nicht sicher bin, wie genau das gerechnet wird.
OK. Genehmigt. Aber das ist schon sehr unwahrscheinlich 😉
Ich hab mich kurz durch die Jaguars-Offense gescrollt.
Lawrence ist noch nicht im NFL-Tempo angekommen. Nur 11 Dropbacks, aber 2 Sacks. Drei unschöne Pässe in neun Versuchen.
Hat den Ball mehrfach zu lang gehalten.
Sah aus wie der erwartet harzige Einstand.
Etienne: Schon verletzt. Kannste dir nicht ausdenken bei einem Runningback.
Etienne ist wohl out for season. Erster 1st Rounder verbrannt.
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