Lass uns einmal mehr über die AFC sprechen

Ein quickes Power-Ranking vor dem letzten Spieltag der NFL Regular Season 2021/22.

Timo Riske hat auf Twitter das an den Schedule angepasste EPA/Play Ranking gepostet:

Auffällig ist, dass von den bislang elf qualifizierten Playoffteams kein einziger „Fraud“ dabei ist. Ausgerechnet der Favorit auf den AFC #1 Seed, Tennessee, ist in der Aufstellung der bis jetzt schwächste Fixstarter.

Tennessee Titans

Die Titans kann ich natürlich nicht vollends ernst nehmen. Sie hatten Pech mit Verletzungen, keine Frage: A.J. Brown war in der zweiten Saisonhälfte einige Zeit raus, Julio Jones schon länger, Derrick Henry ist auch seit über zwei Monaten weg – wie auch LT Taylor Lewan.

Aber wir müssen auch konstatieren: Der Quarterback war die ganze Zeit fit. Henry ist als Runningback eh nicht die wichtigste Position und wer erhofft, dass ein auf Krücken laufender Julio heuer noch den großen Impact bringen wird, der wird bitterlich enttäuscht werden.

Tennessee ist kein Team von Konstanz. Die Titans haben nur das fünftbeste Punktverhältnis der AFC, haben einen überdurchschnittlich einfachen Schedule gespielt (nur 19t-schwerster nach PFF), und haben bei allen eindrucksvollen Siegen über Playoffteams wie Chiefs, Rams oder Playoff-Kaliber wie Colts, 49ers oder Saints auch Stinker gegen die Jets oder Texans mit drin.

Und selbst die „imposanten“ Siege waren Wackler. Gegen die Colts brauchte man einen Wentz-Meltdown. Gegen die Rams warf Matt Stafford im ersten Viertel zwei kapitale Interceptions – einen davon zum Pick Six. Gegen die Saints durfte man gegen einen third stringer auf QB ran. Bei den Niners warf JimmyG eine Interception nach der nächsten.

Gegen die Chiefs war eindrucksvoll. Aber war halt auch in der übelsten Phase der Chiefs in dieser Saison, als wirklich mal für ein paar Wochen der Wurm in der Offense drin war.

Kann Tennessee eine Überraschung schaffen und damit schon im AFC-Finale stehen? Natürlich. Die AFC ist ausgeglichen genug.

Aber allein, dass es gleichzeitig nicht unvorstellbar ist, dass Tennessee den #1 Seed gar nicht schafft, weil es nochmal gegen Houston verliert, sagt uns auch einiges darüber aus, wie wir die Titans sehen sollten.

Kansas City Chiefs

Die Chiefs sind jetzt nach allen Struggles wieder ein Top-3 Team. Von allen Spitzenteams haben sie nicht nur rechtzeitig die Offense so gefixt, dass sie nach EPA/Play wieder die #1 ist, sondern auch ihre Defense trotz des unterirdischen Saisonstarts fast auf Durchschnittsniveau gebracht. Und: Sie haben von allen Topmannschaften den mit Abstand schwierigsten Schedule gespielt (siebtschwerster der NFL).

Dass die Chiefs am Sonntag die eigentlich in der ersten Halbzeit dominant geführte Partie bei den Bengals weggeworfen haben und damit auch ihre Pole Position auf den #1 Seed aufgegeben haben: Bitter – gerade weil in der ausgeglichenen AFC in diesem Jahr jedes Freilos eine massive Erleichterung gewesen wäre.

Jetzt droht ein Wildcard-Spiel gegen die Chargers. Gegen die hat man heuer schon zwei Nailbiter gespielt. Eins wurde gewonnen, das andere verloren. Kurioserweise hat in beiden Spielen die jeweils gefühlt etwas schwächere Mannschaft gewonnen.

Crunch-Time: Chiefs @ Bengals

Nochmal kurz zu der Game-Finish-Situation in Cincinnati. Ich weiß nicht, ob es ein „klassischer“ Andy Reid war (normalerweise verkackt Reid v.a. seine Timeouts, wirft schlechte Challenges und lässt zu geduldige Offense spielen) und ich habe ehrlich über die Jahre auch übleres Game-Finish-Management gesehen. Aber das hätte er natürlich besser machen können. Vielleicht müssen.

Ich meine: Fast wäre Reids Verzögerungstaktik ja aufgegangen. Die Chiefs hatten die Bengals an der Goal Line bekanntlich bis zum 4th Down gebracht – und dann musste eine Defense-Strafe entscheiden. Außerdem war der 4th Down Snap mit 58 Sekunden auf der Uhr: Hätte Cincinnati ein Fieldgoal geschossen, hätte Patrick Mahomes noch viel Zeit zum Konter gehabt und nur Fieldgoal-Reichweite für die Overtime gebraucht.

Aber auf der anderen Seite muss man auch konstatieren: Die Chiefs haben in der Crunch Times mehrere Defense-Strafen bei Pässen kassiert – die Defensive Backs sahen einfach kein Land mehr gegen die Passing-Armada der Bengals. Du konntest dich in keiner Situation mehr auf die Defense verlassen.

Und darauf zu vertrauen, dass der Gegner das Game-Management verbockt, ist halt auch eher 2012 als 2022. Heute ist sogar ein Zac Taylor soweit, dass sein Team:

  1. Bei 3rd&1 an der 2 nur 1 Yard weit rusht und dann freiwillig zu Boden geht um anstatt des Touchdowns nur ein 1st Down zu machen um die Uhr zu melken.
  2. Danach dreimal konsequent läuft (bzw. 2x QB-Sneak und einmal Run) um die Zeit von der Uhr zu nehmen.
  3. Beim 4th&Goal von der 1 Yards Line nicht “die Punkte nimmt“, sondern ausspielt. Das brachte mehrere Vorteile: Im Erfolgsfall bringt es die Offense extrem in die Bredouille, weil es die Offense zum Scoren eines Touchdowns in weniger als einer Minute zwingt. Im Misserfolgsfall nagelt es die gegnerische Offense bei Spielstand remis ganz hinten an der 1 Yards Line rein. In 58 Sekunden ohne Timeouts versuchen nicht viele Teams, überhaupt noch den Ball signifikant zu bewegen.

Ein Fieldgoal hätte zwar die quasi sichere Führung gebracht, aber eben noch viel Zeit für relativ wenig Raumgewinn für die Mahomes-Offense gelassen.

Und dann machte Zac Taylor noch etwas Spannendes: Erst molk er mit Laufspiel die Uhr, und dann Iieß er in allen Crunch-Time-Situationen werfen. Das brachte letztlich den entscheidenden Gewinn: Es provozierte Strafen der Defense. Strafen bei Laufspielzügen gehen fast immer gegen die Offense – False Start, Holding, usw.

Hier aber sackelten die Bengals mit einem Pass wie schon in vielen Situationen direkt davor die beste aller Strafen ein: Automatic 1st Down. Damit war das Ding gegessen.

Atemberaubend ist ja, dass die Bengals in den letzten zweieinhalb Minuten damit zehn (!) Snaps an der Chiefs-Goal Line hatten. Im Rückspiegel sieht das natürlich übel für Andy Reid und die Chiefs aus. Er hätte besser auf Patrick Mahomes als auf seine Defense vertraut – aber so be it. Situational-Game-Management war nie die Stärke von Andy Reid.

Jetzt muss man wahrscheinlich über die Wildcard-Runde, und wenn es deppert läuft, dann warten gleich in der ersten Runde die Chargers.

Cincinnati Bengals

Die Bengals sind in der obigen Aufstellung erstaunlich weit „hinten“ gerankt – und das trotz der #4 Passing-Offense nach EPA/Play. Es gibt dafür primär zwei Erklärungen:

  • Run/Pass Split: Die Bengals haben eine der höchsten 1st-Down-Rushing-Rates, und nur die #22 Rushing-Offense. Anders: Sie sind über die Saison einfach zu oft gelaufen, was ihr Overall-Offense Ranking trotz einer der potentesten Passspiele aus den Top-10 wirft.
  • Schedule: Sie haben den vierteinfachsten Schedule der NFL gespielt, und das mag den Spielplan sogar noch überschätzen, denn ein Team wie die Ravens haben sie total broken vorgefunden.

In den letzten Wochen sind die Bengals natürlich heißgelaufen und Joe Burrow hat mit sensationellen Statistiken über die letzten Wochen vielleicht noch eine Mini-Mini-Mini-Außenseiterchance auf ein paar MVP-Stimmen.

Aber einmal ist das gerade jetzt schon das absolute High-End der Bengals. Wenn Burrow mal einen „nicht-perfekten“ Tag erwischt, gibt es nicht viel zum Kompensieren.

Zum zweiten weigere ich mich an einen gekurten Zac Taylor zu glauben. Dass Taylor das Gaspedal so durchdrückt wie in den letzten Wochen, glaube ich wenn ich es sehe.

Zum dritten ist das Team einfach noch nicht stabil. Burrow kassiert brutal viele Sacks – fallen nicht genug Big Plays, droht die Implosion. Die Defense ist gut, besser als erwartet, aber nicht sehr gut.

Los Angeles Chargers

Ein erstaunliches Team sind auch die Chargers. Sie haben nach dem Stinker gegen die Texans in Woche 16 das Notwendige gemacht und Denver problemlos kontrolliert. Sie sind wie Cincinnati ein Team mit Elite-Ceiling, weil sie in Justin Herbert die momentan vielleicht perfekteste Quarterback-Maschine haben.

Aber sie haben eben auch genug Flauseln um im Durchschnitt doch deutlich abseits der NFL-Elite zu ranken.

Herbert ist der QB mit der geringsten Fehlerquote der NFL (geringste Turnover-worthy-Play-Rate). Er ist die #6 nach EPA/Play. Er ist die #3 in PFF Grading.

Aber die Chargers geben ihm bei allem Screenpass-Gewichse und niedrigem aDOT recht wenige einfache Plays. Nur 29% Play-Action ist z.B. heuer nur Mittelfeld. Viele Iso Routes. In Early Downs ist die Offense eher durchschnittlich. Herbert muss extrem viel in 3rd Downs rausreißen, wo die Passing-Offense die #3 ist.

Die Chargers haben auch eine kapitale Sollbruchstelle in der Rushing-Defense. Die ist #31 nach EPA/Play und #32 in Success-Rate. Rushing-Defense ist die Schwäche in einer Mannschaft, die am einfachsten zu verkraften und auch am einfachsten zu fixen ist.

Aber:

  1. Die Chargers sind richtig, RICHTIG übel darin – fast 48% Success-Rate im Schnitt zuzulassen, geht dann doch in Richtung „kann ein ganzes Team in den Abgrund reißen“.
  2. Und das mit dem Fixen ist nicht so einfach. Brandon Staley fokussiert die Passing-Defense und lässt dabei die Boxen eher offen. Die individuelle Qualität reicht nicht ganz aus um ohne nominelles Gleichgewicht gegenzuhalten. Und im Zweifelsfall lässt sich Staley dann doch lieber überlaufen als zu überwerfen.

Staley war bei seiner Anstellung als Defense-Genius angepreist worden. Ich habe schon im Sommer geschrieben, warum ich eine eher problematische Defense bei den Bolts erwarte:

In Summe bin ich nicht ganz so optimistisch wie einige andere, was diese Defense angeht. Mit EDGE Ingram, CB Hayward, S Rayshawn Jenkins oder LB Denzel Perryman ist mehr Talent zur Tür hinaus gegangen als neu dazugestoßen ist, in Derwin/Bosa sind die beiden Superstars größere Verletzungsfragezeichen und in Harris der zweitbeste Defensive Back unangenehm alt.

Das kann schneller als gedacht in einer Enttäuschung enden.

Spielen EDGE Joey Bosa und DB Derwin James auf absolutem Topniveau, können die Bolts die Probleme einigermaßen kaschieren und mit einem Justin Herbert on hot streak durchaus in die Superbowl durchmarschieren.

Aber das mit dem Heißlaufen und Durchmarschieren gilt für mehrere AFC-Teams in dieser ausgeglichenen Conference.

Die Chargers sind übrigens am Sonntag auswärts mit 3 Punkten bei den Raiders favorisiert. Das deutet darauf hin, dass die Märkte die Bolts schon als klar besseres Team ansehen als den direkten Konkurrenten Las Vegas. Aber 3 Punkte sind nur etwa 57% Sieg-Wahrscheinlichkeit. Erstmal gilt es also, überhaupt in die Playoffs zu kommen.

AFC Tiers

Keine einfache Übung, da die Teams recht knapp beieinander liegen.

  • Chiefs und Bills sehe ich eine Stufe über den anderen, mit Chiefs > Bills.
  • Danach Chargers und Bengals, weil beide potenziell Elite-Passing-Offenses für einen Durchmarsch, aber nicht die Konstanz haben um genug Vertrauen in einen Playoff-Run aufzubauen Chargers sehe ich als gefährlicher an als die Bengals, bei denen ich das höchste Bust-Potenzial sehe. In das Tier würde ich auch die Patriots stecken, obwohl Mac Jones: Sie haben in Bill Belichick den besten Coach.
  • Dann Colts: Super Team, ähnlich wie die Patriots super gecoacht, aber Carson Wentz auf QB ist einfach kritisch mit Blick auf einen Playoff-Run, der vier Spiele lang dauern soll.
  • Dann Titans. Favorit auf den #1 Seed, aber ich glaube nicht an die „Fähigkeit, Spiele einfach zu gewinnen“. Tennessee ist von allen AFC-Playoffteams am ehesten Fake.

Steelers oder Raiders in den Playoffs zu sehen, wäre in meiner Weltsicht tragisch, da es eines von drei potenziell fantastischen Wildcard-Spielen ästhetisch ruinieren würde.

AFC Wildcard-Traum

Wir wissen noch nicht, wie ernst z.B. die Bengals den letzten Spieltag nehmen. Obwohl es unter Umständen noch die Chance auf den #1 Seed gibt, könnten sie durchaus ihre Starter gegen die Cleveland Browns schonen um in möglichst fittem Zustand in die Wildcard-Runde zu gehen.

Sagen wir, die Bengals schenken gegen Cleveland ab und die Colts und Chargers gewinnen beide ihr letztes Spiel. Wir hätten die nominell genialste AFC-Wildcardrunde seit langem:

  • Chiefs – Chargers
  • Bills – Colts
  • Bengals – Patriots

Die beiden ästhetisch großartigsten QBs der NFL im direkten Duell gegeneinander – und ein drohendes Aus für den Topfavoriten gleich im ersten Spiel. Der andere Co-Favorit (Bills) gegen das eine Team, von dem sie in der Saison schon überrannt worden ist. Und ON TO CINCINNATI.

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9 Kommentare zu “Lass uns einmal mehr über die AFC sprechen

  1. Diese Wilcard Runde wäre gigantisch und super spannend. Die AFC macht heute deutlich mehr Spaß als die viel zu Packers-dominierte NFC.

  2. Sehe ich das richtig, dass es ein Montagsspiel bei den Wildcard-Spielen gibt? Also dann am Sonntag danach uU 6 Tage Pause gg 14 Tage Pause?? In der NFL whrschl riesiger Unterschied. (Allein schon medizinisch 😉 )

  3. … und zur Bedeutung von #1: 538 sieht aktuell für die Titans eine 9% Titel-Chance. Damit sind die Titans eine von sechs Mannschaften mit 5%+ Titelchancen. Die anderen sind Bills, Rams, Buccs, CHiefs (19%) und Packers (27%).
    Wenn ich im Simulator ihnen den #1 wegnehme, haben sie noch 3% Titelchance 🙂 .

  4. @Ahmser: Ja, eins der Wildcardspiele wird ein Monday Night Game sein. Das hat die NFL für ABC/ESPN so gescheduled. Finde ich auch nicht schlecht aus europäischer Sicht, denn zwei ganz lange Nächte hintereinander stauchen schon hart 🙂

    Bzgl. #1 Seed: Ja, klar hilft das Freilos extrem. Ist eine 100% Siegchance in der ersten Runde – gerade in so einem ausgeglichenen Feld wie heuer besonders wichtig. Auch wenn die Titans schon einen Freak-Run à la Baltimore 2012/13 haben müssten um heil durch drei Spiele zu bekommen.

  5. Burrow denkt das er nicht spielen wird. Mayfield sitzt auch aus – bei ihm aber wohl auch eine medizinische Angelegenheit.

  6. Das wäre richtig heftig wenn uU 6 Tage Pause gegen 14 Tage Pause spielen, vor allem wenn das als Beispiel die NFC betreffen würde und die Saints doch noch in die Playoffs kommen, erst gegen die Rams in LA bei knappen 20 Grad Plus und dann 6 Tage später bei evtl Minusgraden im Lambeau Field…

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