Wer meine Gedanken zum epischen Wildcard-Spiel zwischen Jaguars und Chargers lesen will, den verweise ich auf den entsprechenden Blogeintrag von heute früh.
Hier geht es mit der Vorschau auf die heutigen NFL Playoff-Spiele weiter.
Beide AFC-Duelle von heute gehen bei den Buchmachern als fulminante Mis-Matches durch. Das NFC-Spiel im Sandwich zwischendrin wird in Ermangelung von spielerischer Klasse am ehesten mit Spannung punkten.
Buffalo Bills – Miami Dolphins
19h05
Obwohl Bills und Dolphins sich in der Regular Season zwei knappe Duelle geleistet haben, die in jeweils einem Sieg für jeden endeten, ist die Ausgangslage vor dieser Partie klar: Alles andere als ein souveräner Heimsieg der mit 13.5 Punkten favorisierten Buffalo Bills wäre eine faustdicke Überraschung.
Die Bills sind neben den Chiefs der größte Superbowl-Favorit in der AFC, während die Dolphins nach Quarterback-Ausfällen von Tua Tagovailoa (mehrere Gehirnerschütterungen) und Teddy Bridgewater (gebrochener Finger) mit dem QB3 Skylar Thompson antreten müssen, der als Rookie in seinen bisherigen Einsätzen nicht NFL-tauglich ausgesehen hat.
Das ist schade, denn die Dolphins-Offense wäre eigentlich eine der Entdeckungen dieser Saison gewesen. Hie und da wurde sie zwar als „gimmicky“ verspottet, aber ich fand diese Kritik nicht fair. Tyreek Hill und Jaylen Waddle sind einzigartige individuelle Receiver, die mit ihrem Speed ganze Defense-Gameplans crashen können, und Headcoach Mike McDaniel setzte sie in maximaler Bedrohlichkeit in Szene.
Aber das alles bedarf eines zumindest reaktionsschnellen QBs. Thompson ist das Gegenteil davon. Die Dolphins werden spät, aber doch noch brutal für ihre kollektive Ignoranz dem Thema Concussions gegenüber bestraft. Ich sehe nicht, wie diese Offense heute verlässlich die Ketten bewegen will. Vielleicht gibt es hie und da ein Big Play. Aber sowas reicht vielleicht gegen die kaputten Jets – nicht für die Bills von QB Josh Allen.
So riesig der Graben zwischen der Qualität der beiden QBs ist, so unterschiedlich treten auch die beiden Defenses von Dolphins und Bills auf: Während die Bills mit ihrer engmaschigen Defense kaum blitzen und schön situativ zwischen Man und Zone Coverage durchmixen, blitzen die Dolphins wild und spielen extrem viel Manndeckung.
Resultat: Buffalo hat die #6 Defense nach EPA/Play. Miami die #26.
Im Prinzip sehe ich nur einen Weg, wie diese Partie überhaupt knapp werden kann: Der tief besetzte Dolphins-Passrush um den starken EDGE Jaelan Phillips (20% Win-Rate) crasht Blitz-unterstützt die nur durchschnittliche Bills-O-Line und zwingt QB Josh Allen damit zu Fehlern.
Völlig undenkbar ist das freilich nicht. Allen ist der Quarterback mit den meisten Interceptions in dieser Saison (19 Stück), und er hat seine Bills damit hie und da unnötig in die Bredouille gebracht.
Aber: Allen hat in den letzten Jahren immer wieder gezeigt, dass er auf Perioden der Nachlässigkeit (wegen Langeweile?) in der Regular Season dann einen Gang hochschalten kann, wenn es wirklich drauf ankommt. Sollte er keinen kapitalen Meltdown hinlegen, ist das Ding schon vor Kickoff gegessen. Was schade ist, denn es ist die Wildcard-Ansetzung zur Europa-freundlichsten Zeit.
Also versuchen wir es mit dem Reverse Jinx: Das kann also nicht gut gehen für diesen Zombie aus Miami. Teams haben in der NFL eigentlich immer eine Chance. Immer, außer heute die Miami Dolphins.
Minnesota Vikings – New York Giants
22h40
Für dieses Spiel wäre ich geneigt, Upset Alert auszurufen. Die Vikings mögen in der Regular Season 13-4 gegangen und sehr lange im Rennen um den #1 Seed gewesen sein, aber sie haben das Kunststück zustande gebracht, dabei eine negative Punktbilanz zu erzielen – als erstes Team mit einer solch guten Winning-Percentage ever. Ich hab Dutzende Male in dieser Saison darüber geschrieben und wiederhole es hier: Die Minnesota Vikings 2022/23 sind not for real.
Das Regular-Season-Duell zwischen diesen beiden Teams am Heiligabend war wie ein Mikrokosmos der Vikings-Saison: Eigentlich war der Gegner mindestens ebenbürtig, wenn nicht gar besser. Aber Minnesota schmarotzte eiskalt von den Giants-Fehlern und hatte in der Offense einen Justin Jefferson um sämtliche Schwächen der Mannschaft zu überdecken. Am Ende würgte Kicker Greg Joseph mit auslaufender Uhr einen 61-Yards-Kick über die Stangen zum 27:24 Sieg.
So ging das die ganze Zeit mit diesem Team: In Sieben-Punkte-Spielen ging Minnesota 9-0, was einen NFL-Rekord einstellt. In Acht-Punkte-Spielen, das manche im NFL-Kosmos noch als „one score game“ durchgehen lassen, waren die Vikes sogar 11-0. Deutlich gewonnen haben sie praktisch nie, weswegen wir prinzipiell seit Wochen darauf warten, dass Minnesota in den Playoffs bloßgestellt wird.
Das Problem bei dieser Warterei? Die Giants sind ein ähnlicher Overachiever. Ich hatte im Sommer zwar geschrieben, dass sie ein dark horse sein könnten, weil sie ähnlich wie die Jaguars vom miserabelsten vorstellbaren Coach (Joe Judge) zu einem sehr respektablen NFL-Coach geupgraded haben (auch wenn Brian Daboll optisch mit seiner Glatze und Bierbauch locker auch der zufällig ausgewählte Typ aus der ersten Reihe im Stadion sein könnte). Aber dass das zu einer souveränen Playoff-Qualifikation und dem #6 Seed reicht, fühlte sich wie „best case“ und nicht wie eine realistische Erwartung an.
Vorteil Giants: Sie maximieren all das, was sie können, und sind gut darin, ihre Schwachstellen zu verstecken.
Offensiv ist von ihnen heute eine konservative Sicherheits-Offense zu erwarten, die in erster, zweiter und dritter Linie darauf bedacht ist, bloß nicht den Ball zu verlieren. Besonders viele Waffen hat diese Offense zwar nicht, aber QB Daniel Jones ist gut darin, einen erstmal gestrickten Gameplan so fehlerlos wie möglich umzusetzen, und hat die notwendige Mobilität um in kritischen 3rd und 4th Downs mit einem Scramble den Drive zu verlängern.
Und selbst wenn wir bedenken, dass Jungs wie WR Isaiah Hodgins, WR Darius Slayton oder TE Richie James nicht zu echten „Matchup-Waffen“ taugen: Die Giants-Coaches schemen sie mit gewieften Routen (und vielen Trick-Plays) frei. Die Vikings-Cornerbacks sind entweder uralt (Patrick Peterson) oder noch relativ unerfahren. Und die Giants-O-Line ist auf Left Tackle in Andrew Thomas mit einem All-Pro Kaliber besetzt, der zumindest den einen der beiden passablen Vikings-Passrusher (Zadarius Smith hat 22% Win-Rate, der im Formhoch befindliche Danielle Hunter über die Saison 18%) im direkten Duell neutralisieren kann.
Das Matchup zwischen Vikings-Offense und Giants-Defense ist einfach zu lesen und wird sich an zwei Stellen entscheiden:
- Wie hält die ersatzgeschwächte Protection vor QB Kirk Cousins gegen den aggressiven Gameplan von DefCoord Wink Martindale?
- Schafft es hinter Jefferson noch ein zweiter Vikings-Pass-Catcher, große Zahlen aufzulegen?
Im Regular-Season-Spiel war es TE Hockenson, der wie Jefferson 16 Targets sah und diese wie Jefferson zu über 100 Yards verwertete. Gelingt Minnesota sowas erneut, stehen die Vorzeichen nicht schlecht für über 20 Punkte, und dann muss die Giants-Offense das erstmal mitgehen.
Aber man ist eher Realist als Misanthrop, wenn man daran zweifelt. Denn die Vikings-OL muss auf zwei essenzielle Starter verzichten: Center Bradberry und RT Brian O’Neill. Bradberry ist als Starter nur Durchschnitt, aber seit seinem Ausfall ist jedes Laufspiel in Minnesota mausetot. Das ist kritisch, denn wie in jeder McVay-Tree Offense beginnt auch bei Kevin O’Connel jeder Plan mit dem Lauf. (Update: Bradbery soll wohl doch spielen).
Doch Bradberrys Ausfall birgt auch unter dem Gesichtspunkt der Pass-Protection Katastrophenpotenzial, denn Giants-DT Dexter Lawrence performte heuer auf und nur knapp unterhalb von DPOY-Level:
O’Neill war bei PFF der #8 Offense Tackle. Sein Ausfall ist potenziell noch kritischer, denn er öffnet den Giants das Tor den Edge-Rush über die Flanken. Martindale ist berühmt-berüchtigt für den Blitz, aber mit einem zuletzt groß aufspielenden EDGE Kayvon Thibodeaux sowie einem genesenen Gegenüber EDGE Azeez Ojulari gibt es starke Individualisten um auch ohne zusätzliche Zweite-Reihe-Blitzer die Pocket zu penetrieren.
Natürlich gilt: New York braucht den Druck, denn hinten steht man auch nach Xavier McKinneys Rückkehr gegen Jefferson und Co. blank. In Manndeckung hat man niemand um Jefferson Herr zu werden, doch Jefferson allein kann den Vikings das Spiel nicht gewinnen.
Cousins ist ein Wackelkandidat gegen Pressure. Hockenson ist ein solider Tight End, aber keine echte Matchup-Waffen, um den herum man Gameplans kreieren kann. Adam Thielen ist ein gefinkelter WR2, aber ist in die Jahre gekommen. KJ Osborn ist maximal ein solider WR3. Vielleicht hilft die Rückkehr von TE Irv Smith jr.
Auf Ballhalten bedachte Giants-Offense gegen bend but don’t break Defense auf der einen Seite. Extrem auf Superstar Jefferson fokussierte System-Offense der Vikings gegen ultra-aggressive Giants-Defense auf der anderen Seite: Das kann ohne weiteres in einem Slugfest mit wenigen Punkten enden.
Es ist das einzige Wildcard-Spiel, in dem ich keiner der beiden Mannschaften einen Superbowl-Run zutraue. Aber es ist wahrscheinlich das knappste von allen Matchups, und es wird wohl an der Line of Scrimmage entschieden, und wird uns zumindest solides Coaching und höchstwahrscheinlich Spannung bis zum Schluss bringen.
Cincinnati Bengals – Baltimore Ravens
02h20
Das Nachtspiel droht wie Bills – Dolphins zu einer einseitigen Angelegenheit zu werden. Die Baltimore Ravens werden ohne QB Lamar Jackson antreten, wodurch sie angewiesen auf eine heroische Defense-Performance und Lucky-Bounces sind, denn es wäre vermessen zu glauben, dass ein angeschlagener QB2 Tyler Huntley oder gar QB3 Anthony Brown genug Offense fabrizieren, um mit den Bengals in Normalform mitzugehen.
Die einzige Hoffnung für Baltimore ist, dass sie die Bengals-Offense mit zwei Backup-Offense-Tackles und einem patentierten Gameplan abwürgen und einen schmutzigen Sieg mitnehmen können.
Cincinnati hat die AFC North mit 12-4 Bilanz gewonnen, und letzten Sonntag mit dem souveränen Heimsieg über eben die Ravens auch das Heimrecht für diese Partie erspielt. Die Bengals hatten sich 2022 zu einem legitimen Superbowl-Contender entwickelt, dem eine Wiederholung des Husarenstücks von vor einem Jahr durchaus zuzutrauen ist.
Aber jetzt gibt es ein potenzielles Problem: Die Offensive Line ist in den letzten Wochen auseinandergefallen. Das ist bitter, denn Cincys diese mit viel Geld aufgebolsterte Unit galt als einer der Hauptgründe für den offensiven Aufschwung und die Weiterentwicklung von der reinen Hoffnung auf Deep-Shots zu einer fein austarierten Offense, die gleichermaßen über den Lauf kommen kann, wie über Intermediate-Passing. Tiefe Bomben gehörten nach wie vor zum Repertoire, aber waren keine Überlebensnotwendigkeit mehr, sondern ein Tool unter vielen.
Aber vor einigen Wochen verletzte sich RT La’el Collins, und letzte Woche ging auch RG Alex Cappa runter, weswegen die Bengals nun mit zwei kritischen Backups in die Postseason starten: RG Max Scharping und RT Hakeem Adeniji. Beide wären in manchen Mannschaften nur third stringer. Sie treffen nun auf eine Ravens-D-Line mit durchaus gefährlichen Passrushern wie Oldie Justin Houston (18% Win-Rate), Odafe Oweh (ebenso 18%), Calais Campbell oder Tyus Bowser (jeweils 13%) und einem Coaching-Staff, der weiß wie man übers Scheme Pressure produziert: Mit Creepern und sogenannten Simulated Pressures, in denen zwar nur vier Leute kommen, aber eben nicht die vier Defense Liner.
Können die Ravens bei QB Joe Burrow damit alte Geister wecken und eine Orgie an Pressures und Sacks feiern?
Erschwerend für Cincinnati kommt hinzu: Sie laufen den Ball hinter dieser Line nicht mehr gut genug, um echte Entlastung zu bekommen, und Burrows zwei schwächste Saisonspiele kamen beide gegen die Defense der Ravens.
Sind das genug Angriffspunkte, um ein Upset herbeizuschreiben? Ich denke nicht. Burrow bleibt ein hervorragender QB, die Bengals-Receiver sind ihren Gegnern im Zweifelsfall individuell überlegen, und vor allem: Von Baltimores Offense wird mit den QB-Backups nicht viel kommen. Es wird einige Turnovers obendrauf brauchen, und vielleicht ein paar Wunder-Fieldgoals von Justin Tucker, wenn die Ravens hier den Coup landen wollen.
Ich glaube nicht daran.
Etwas, das eventuell zu beachten sein wird: Gestern hat es doch auffällig viele gelbe Flaggen für „ineligible man downfield“ gegeben. Diese Strafe gibt es, wenn Offense Liner bei Passspielzügen weiter als ein Yard über die Line of Scrimmage gehen – ein Vergehen, das gerade bei RPOs vorkommen kann. Wenn die NFL hier zur Postseason eine neue Direktive rausgegeben hat, könnten RPO-lastige Teams wie die Eagles eventuell ins Schwitzen kommen.