Vor ein paar Tagen hatte ich schon den Soll/Ist zur abgelaufenen NFL-Saison 2022/23 gemacht. Heute folgen noch ein paar abschließende Gedanken.
2021 war eine Saison des Mittelmaßes, in dem es kaum dominante Mannschaften gab. 2022 war das Gegenteil: Es gab 4-5 Klasseteams, 2-3 „fringe“ Klasseteams, kaum Mittelständler, dafür eine lange Liste an richtig üblen Footballteams. Die Schere klaffte nur ein Jahr nach dem Einheitsbrei von 2021 extrem weit auseinander.
Und so war Eagles – Chiefs ein so perfekter Superbowl, wie ein Jahr davor Bengals – Rams ein passendes Finale für 2021 gewesen war. Beide 2022/23-Finalisten wären deutlich gegen die beiden Vorjahresfinalisten favorisiert gewesen.
Offense > Defense
Wenn ich an die Saison 2022/23 denke, dann denke ich zuerst an den Denkzettel der Defenses, an denen die Offenses in der ersten Saisonhälfte zu knabbern hatten, und auf wie viele unterschiedliche Arten die Offenses die Lösungen gefunden haben. Am Ende setzten sich wie fast immer die offensivstärksten Mannschaften durch.
Die Chiefs spielten als #1 Offense in EPA/Play die Eagles-Defense als #1 Defense in EPA/Play an die Wand, obwohl ihr Quarterback physisch nicht bei 100% war. Das alles, nachdem die Chiefs in der Regular Season auch die #2 Defense nach EPA/Play an die Wand gespielt hatten (nämlich die 49ers).
Sie führten hohe Raten an multiple-Tight-End-Sets ein – nicht bloß 12-Personnel, sondern an die 10% Plays mit 13-Personnel – um Defenses damit vermehrt in Base-Personnel zu zwingen und daraus Big-Plays zu kreieren – ein Wrinkle vom Headcoach Andy Reid. Und natürlich hatten die Chiefs einen Außerirdischen auf QB.
Die Eagles dominierten mit ihrer nahezu perfekten O-Line und wahnwitzigen Skill-Playern, spielten 11-vs-11 mit ihrem laufstarken QB, mit viel RPO und Deep-Shots, und kaschierten damit, dass ihr QB nicht zur absoluten Liga-Elite als Werfer gehört. Und sie nutzten eine seit Jahren bestehende „Lücke“ im NFL-Reglement für ein quasi „automatisch“ verwertetes 4th&short im Rugby-Style. Defenses fanden quasi bis zum Ende kein Gegenmittel gegen diese Offense.
Die 49ers hatten wie immer den besten Playcaller, aber diesmal auch das grandioseste Waffenarsenal, und fuhren damit selbst mit dem third stringer auf QB über die meisten Gegner quasi widerstandslos drüber. Die Bengals konnten sich in Ermangelung von Pass-Protection kaum „Easy Buttons“ wie Play-Action leisten (Joe Burrow mit Rücken zur Defense war eine schauerliche Vorstellung für die Coaches), aber dominierten mit Quick-Game und Elite-Receivern. Die Bills fielen zum Ende auseinander, weil ihr QB zu wenig Disziplin zeigte, und wohl auch, weil das Team einen Tick zu wenig physisch war – aber zu Saisonbeginn waren sie, noch diszipliniert genug, nicht zu stoppen.
Die Dolphins dominierten zwei Saisondrittel lang, indem sie den überragenden Speed ihrer Receiver dazu nutzten, das Shanahan-System einfach zehn Yards tiefer als gewohnt zu spielen, aber fielen am Ende auseinander, weil ihre QBs zu keinem Adjustment fähig waren, als die Nahtstellen besser geschlossen wurden.
Ein Team wie die Lions war mit intelligentem Scheme und guter O-Line in der Lage, einen QB Jared Goff zur #6 Offense in EPA/Play zu schleifen. Die Seahawks ritten mit einem erweiterten McVay-Scheme in die Playoffs, und die Giants grindeten mit allen Mitteln der Kunst eine überdurchschnittliche Offense aus QB Daniel Jones und einer Handvoll JAGs auf Receiver heraus.
Offenses hatten also nach wenigen Wochen wieder die Oberhand, und haben zurückgeschlagen. Obwohl Defenses mehr noch mehr two-high als zuvor spielten und Offenses zum Laufen einluden wie nie zuvor, warfen die NFL-Mannschaften diese Saison schon wieder mehr tiefe Pässe als letztes Jahr. Die extreme Breite der Palette an neuen Herausforderungen, vor denen so viele verschiedene Offense-Köpfe die Defenses stellten, hat am Ende einmal mehr gezeigt: Offenses sind nicht nur weiterhin nahezu doppelt so wichtig wie Defenses – die Schere geht sogar noch weiter auseinander!
Jahr der Playmaker, aber: Talent allein reicht nicht
Fix ist aber: Es braucht eine offensive Idee. Null-acht-fünfzehn ist längst nicht mehr genug. Mannschaften wie die Chargers oder Buccaneers, die schematisch nix zu bieten hatten und allein auf die individuelle Klasse ihrer Spieler bauten, gehörten zu den Enttäuschungen des Jahres.
Laufstarke QBs dominieren immer stärker die Szene. Der Fokus auf QB-Rushing war wichtiger als jemals zuvor, was nicht nur der Rekord an 500-Yards-Rushing-QBs bewies. Sogar eine Offense, die quasi ohne konventionelles Passspiel designt war (jene der Bears), funktionierte auf ihre Weise mehr als passabel.
Der Kampf um die Spielfeldmitte wird immer zentraler. Kleinere QBs, die die Mitte meiden, werden vom Markt gedrängt, während die besten Offenses in der NFL wie Kansas City oder San Francisco gegnerische Defenses auch ohne Outside-Bedrohung an die Wand spielten.
Es war das Jahr der Playmaker, und wir haben gelernt, wie viel Teams bereit sind, in Top-Receiver zu investieren. Nämlich, mehr als einen 1st Rounder und nördlich von 25 Mio. USD/Jahr. Dass am Ende ausgerechnet eins der Teams den Titel holte, das seinen WR1 verkaufte, war Ironie der Geschichte, zeigte aber nochmal, wie außergewöhnlich wertvoll Patrick Mahomes ist.
Defense bauen
Two-high und Fokus #1 gegen den tiefen Pass: Die beiden Themen setzten sich aus den Vorjahren fort. Die „cautious aggressiveness“, die ein Cody Alexander vor Jahren als wichtiges Heilmittel im College Football angepriesen hatte, ist in der NFL voll angekommen.
Die Passrush vs Coverage-Diskussion bleibt weiter spannend. Wir haben über die letzten Jahre gelernt: Coverage, v.a. die Rate an „perfect coverage“ ist einer der wichtigsten Treiber effizienter Defense, aber gleichzeitig fällt es einfacher, die Qualität von Passrush zu prognostizieren. Der Grund ist ein einfacher: Passrush ist eine „offensive“ Aktion. Decken ist eine „defensive“ Aktion – bzw. das Verhindern einer Aktion. Und eine Aktion ist einfacher zu bewerten als das Fehlen einer Aktion.
Leute wie Eric Eager haben über die Jahre einen Schritt vor, und dann einen halben zurück gemacht und sind vor zwei Jahren in etwa bei 50/50 Gewichtung zwischen den beiden Feldern Passrush und Coverage gelandet. Ein Adrian Franke hat schon Ende letzter Saison damit begonnen, einen hochkarätigen 4-Man-Passrush als beste Basis für eine Defense anzupreisen, weil sich daraus folgend der höchste „Floor“ bei brauchbarer schematischer Flexibilität ergibt.
Das Problem ist die Ressourcenknappheit: Kaum ein NFL-Team hat die Möglichkeit, dominanten Passrush und dominante/tiefe Coverage zu bestücken. Gleichzeitig sind die Elite-Quarterbacks der NFL – Mahomes, Burrow und Co. – quasi blitzresistent geworden – was im ersten Moment für den Passrush spricht.
Doch spätestens in der Superbowl hat sich wieder gezeigt, wie „einfach“ sich auch der tiefste und dominanteste Passrush mit Quick-Game aushebeln lässt – und die Chiefs haben auch den anderen dominanten Passrush in ihrem Schedule, San Francisco, förmlich an die Wand gespielt. Einen Nick Bosa aus dem Spiel zu nehmen, erforderte nur etwas horizontalen „Stretch“ und bissl Vorstellungskraft der Coaches.
Wir haben wenige verlässliche Statistiken, eben weil sich Verteidigen schwerer quantifizieren lässt als Angreifen. Angenommen, wir können nicht beides haben und die perfekte Secondary/Coverage ließe sich effektiv bauen, sehe ich das nach wie vor als Gold-Standard für die Defense-Strategie an, da sie hohe Raten an hochklassiger Man-Coverage zulässt – und das ist die effizienteste Methode, die besten Passing-Defenses einzubremsen.
In Summe sehen wir aber für Defense ähnlich wie für die Offense: Sie muss in der Lage sein, sich zu wandeln. Es braucht einen soliden Stamm an talentierten Spielern – und es braucht Flexibilität und Adaptivität. Lou Anarumo in Cincinnati ist diesbezüglich der heißeste Name. Doch auch ein DeMeco Ryans ist nicht umsonst Headcoach geworden und ein besserer Headcoach-Kandidat als ein Robert Saleh, denn er hat das System seiner 49ers wandlungsfähiger gemacht als „geht’s raus und spüilts“ Saleh (dass auch Ryans von Mahomes an die Wand gespielt wurde, sollte nicht verschwiegen werden).
Be aggressive!
Obwohl Offensive EPA/Play einen leichten Rückgang erlebte, sitzen die Offenses seit spätestens Ende Oktober wieder am längeren Hebel. Mehr quick-Game, mehr Laufspiel in offene Boxen, haben gegen die two-high-Shells mit post-Snap Rotation geholfen – aber auch mehr Aggressivität in 4th Downs.
Old Schooler können behaupten, was sie wollen: Der 4th-Down-Trend in der NFL ist voll im Gange, nicht zuletzt weil die Eagles in der Superbowl immer wieder ohne mit der Wimper zu zucken 3rd Downs zu kurzen 4th Downs machten, und diese wie selbstverständlich ausspielten.
2014 ging nur ein einziges Team in spielneutralen Situationen in über 40% der Fälle, in denen der Baldwin-4th-Down-Calculator das Ausspielen mit mehr als 1% Vorsprung gegenüber dem Punten/Kicken empfahl, aufs 4th Down. Und satte 19 Mannschaften spielten nicht einmal 20% dieser 4th Downs auf.
Der Durchschnitt der letzten drei Jahre? Über 18 Mannschaften pro Saison spielten mehr als 40% dieser 4th Downs aus. Im Schnitt zehn Mannschaften spielten sogar über 50% dieser klaren „to go“ Situationen aus. Nur 1.33 Teams pro Saison, also vier insgesamt in den drei Jahren, spielten weniger als 20% dieser klaren „to go“ 4th Downs aus – die von einem Interimscoach geführten Texans 2020, Pete Carroll 2021 sowie die die Höhlenmenschen bei den Jets und Saints in der letzten Saison.
Analytics und Football Guys
Der Siegeszug von Analytics ist längst besiegelt. Gerade über die abgelaufene Saison verstärkte sich mein Eindruck, dass „Film-Guys“ und „Number’s nerds“ schön langsam zueinander finden. Die einen nutzen verstärkt – und intelligent – Advanced-Metric. Die anderen haben verstanden, dass selbst die beste uns zur Verfügung stehende Metrik (EPA/Play) nur Ausgangspunkt, nicht Endpunkt, aller Analyse ist.
Gerade in der Quarterback-Evaluierung greift EPA/Play mittlerweile deutlich zu kurz, da die Umstände – Playcalling, breite Palette im Playdesign, Waffenarsenal – durch die Revolution in Offense und Defense einnehmen als noch vor 5-6 Jahren, als die meisten Mannschaften den gleichen Schrott gegen die immergleichen Single-High-Defenses spielten und eine Million Mal pro Spiel in die Mauer rannten.
Ich bin ehrlich: Ich dachte vor zehn Jahren, dass einige Aspekte aus Analytics (damals noch „Mathletics“) noch schneller, tiefergreifend den Sport verändern würden. Doch auch ich bin älter geworden und schaue nicht mehr mit der Naivität eines Anfang-Zwanzigjährigen auf die Welt. Im Football ist es so wie überall anders auch: Veränderungen gehen langsamer als gedacht, weil die Widerstände dann doch zu groß sind – und sogar manchmal Recht behalten, wie in der „Passrush vs. Coverage-Diskussion“, die vor einigen Jahren gelöst aussah, und sich seither dann doch mit dem Spiel in eine andere Richtung entwickelt hat. Auch das gehört zu evidenzbasierter Entscheidungsfindung: Seine Meinung zu ändern, wenn es die Indizienlage verlangt.
In Summe geht es aber in die richtige Richtung. 4th Downs wie oben geschrieben kein Vergleich zu früher. Front-Offices haben qualitative Quantensprünge gemacht. Dass Runningback die falsche Position für fette Verträge ist, weiß mittlerweile der dümmste aller NFL GMs.
Das sind nur die offensichtlichsten Takes. Die Liste ist erweiterbar auf fast alle Aspekte der NFL – auf dem Feld, und neben dem Feld. Dass Entscheidungen verstärkt evidenzbasiert statt schwanzgetrieben getroffen werden können, hat einen angenehmen Nebeneffekt: Sämtlicher Football-Diskurs ist auf dem qualitativ höchstem Niveau ever. Die Football-Berichterstattung ist noch nicht perfekt, aber sie ist das eine Gebiet, das sich in den letzten zehn Jahren stetig nach oben entwickelt hat – zumindest, wenn man die richtigen Accounts blockiert, ausblendet und ignoriert.
Concussion uns Co.
Die NFL passte im Lauf der Saison ihre Concussion-Protokolle an, doch nicht ohne den GAU. Es brauchte schwer auf den Magen schlagende Bilder eines kapital abgeschossenen Tua Tagovailoa, um den Verstand nicht nur bei den Miami Dolphins, sondern ligaweit zu aktivieren. Es konnte nicht weitergehen wie früher.
Wie viel besser es seither wurde, ist eine berechtigte Frage. Von einem Durchbruch würde ich nicht sprechen, weil der NFL nach wie vor der Wille fehlt, proaktiv zu wirken anstatt wie so oft auf den Aufschrei zu reagieren.
Damar Hamlin. Gibt in einem Season-Recap keinen Weg um diesen Schocker herum. Hamlins Herzstillstand in einem kritischen Moment zum Ende der Regular Season hatte am Ende keine direkte Auswirkung aufs Playoffbild – dafür erzielten Chiefs, Bengals, Bills alle genau die richtigen Ergebnisse.
Aber der Damar-Hamlin-Moment hat gezeigt, dass die NFL auch perfekt sein kann, wenn es um medizinische Themen geht. Und wie viele Menschen es gibt, die in solchen Momenten trotzdem nur auf ihren eigenen Vorteil bzw. in unserem Fall demjenigen seines Teams schauen. Eine bittere Erkenntnis, nicht überraschend, und trotzdem real.
Die Saison ist endlich vorbei
Ich lüge nicht: Ich fand die 16-Spiele-Saison besser, und bin noch immer kein Fan der Playoff-Erweiterung auf 14. Statt fünf guten und sechs schlechten Playoffspielen haben wir nun eben fünf gute und acht schlechte Playoffspiele – oder so.
Die Saison zog sich und zieht sich. Kurz und kompakt fand ich besser.
Ist nur eine Woche mehr, und zwei Playoffspiele mehr? Vielleicht ja. Doch irgendwann ist genug, und das zerstückelte Wildcard-Wochenende hat auf mich jeden Reiz verloren.
Ich bin froh, dass fertig ist. Das hatte ich früher nie. Es war am Ende eine tolle Saison, weil das Gebotene am Feld nach einem Monat des Horrors dann doch ansehnlich war, und weil sich am Ende die besten Teams durchgesetzt haben.
Es war eine zu lange Saison. Aber eine gute. Ich freue mich jetzt auf die Offseason und den Draft – denn dort darf jeder mitreden. Draft ist die Zeit, in der richtig und falsch verschwimmen. Ich schaue kaum noch College Football und gehe noch ziemlich jungfräulich rein. Mal schauen, ob mein Early-Season-Take, dass Anthony Richardson der #1 Pick sein sollte, der Realität standhält.
Die wichtigste Grundregel – jeden Prospect und jeden Move zu loben um es hinterher immer schon gewusst zu haben – werde ich wie immer ignorieren, und mich as always auf das strategische Team-Building fokussieren. Die Zeit nach dem Draft ist meistens spannender als die Zeit vor dem Draft. Ich denke nicht, dass sich heuer daran was ändern wird.
„Und wie viele Menschen es gibt, die in solchen Momenten trotzdem nur auf ihren eigenen Vorteil bzw. in unserem Fall demjenigen seines Teams schauen. Eine bittere Erkenntnis, nicht überraschend, und trotzdem real.“
Surreale Erkenntnis dieses Dramas. Hätte ich nie nie nie gedacht, dass es Menschen gibt, denen das völlig hinten vorbei geht, wenn es um das eigene Team geht.
Mal Off topic: Das Projekt Lead Blogger hat nicht so richtig gezündet, oder?
Als fanboy des Blogs 😉 : aktuelle mock drafts sehen anthony richardson Mitte erste Runde. 😀
Oha, Payton… Lombardi soll als OC Russel Wilson wieder in die Spur bringen. Ich bin skeptisch, um es vorsichtig zu sagen.
@Flip: Lead-Blogger ist noch aktiv, aber die ursprünglich gedachte Form war nicht haltbar.
Es ist eben doch ein Riesenaufwand, das ohne Bezahlung nebenher zu machen.
Ich schaffe es z.B. kaum noch, diesen Blog über Wasser zu halten, und vielen Kollegen ist es ähnlich ergangen.