Halbzeit der WM nach 32 von 64 absolvierten Partien, und das sportliche Fazit ist fast uneingeschränkt positiv. Es wird von fast allen Mannschaften flott nach vorne gespielt, es wird nicht versteckt. Die Teams mit braunem Verdauungsendprodukt in der Unterhose werden bis auf wenige Ausnahmen bestraft, während mutige Mannschaften mit Offensivdrang sich mit tollen Vorstellungen und guten Ergebnissen beschenken.
Eine 1:0-Führung scheint diesmal kein in Stein gemeißelter Punktgewinn zu sein, so viele Comebacks wie es bisher gab. Die Schiedsrichterleistungen pendeln sich trotz einer Handvoll übersehener Elfmeter auf für WM-Verhältnisse gutem Niveau ein. Nickligkeiten und rotwürdige Tretereien bleiben uns ebenso erspart wie allzu viel Theatralik und sterbende Schwäne. Die Stimmung in den Stadien wirkt trotz einiger gelichteter Ränge ausgelassen. Das Klima beeinflusst Partien, aber nicht so dramatisch wie angenommen.
Eigentlich alle, mit denen ich gesprochen habe, bescheinigen diesem Turnier, das beste ever zu sein. Diese Lobeshymnen kommen freilich, bevor es mit den Ausscheidungsspielen richtig losgeht – und erst die Qualität dieser wird das Turnier wirklich auf lange Sicht definieren, aber Baby: Ich fühle mich bis jetzt prächtig unterhalten.
Die positivsten Erscheinungen bisher:
Frankreich. Ich hatte den Franzosen in der Preview ja den Titel zugetraut, und bisher sind die Auftritte souverän gewesen. Die hondurianischen Holzhacker mit geduldigem Kombinationsspiel aufgebohrt, die Schweizer mit wuchtiger Offensive und faszinierendem Konterspiel zerlegt. Man zeigte in beiden Spielen unterschiedliche Offensiv-Formationen (Spiel 1 mit Griezmann, Spiel 2 mit dem bulligeren Giroud), und beide formationen funktionierten.
Kolumbien. Die Gegner waren mit Griechenland und der trägen Elfenbeinküste bisher keine Knaller, aber die kolumbianischen Vorstellungen umso massiver. Man hat wenig Mittel über die Flügel, weil auch die Flankenmänner wie Cuadrado schnell nach innen ziehen, aber man spielt schnell, direkt, in bester Dortmund-Manier die Gegenstöße aus. Guter Geheimtipp.
Algerien. Ohne zu wissen ob und in welcher Form es die angebliche Revolte in der Halbzeit des Belgienspiels wirklich gab, gefällt mir der Wille dieser spielerisch eher limitierten Mannschaft sehr, sehr gut. Gegen Korea nutzte man die koreanischen Abwehrbolzen mit einem Selbstverständnis aus, das ich den Algeriern in den optimistischsten Szenarien nicht zugetraut hatte. Das Achtelfinale ist nicht außer Reichweite.
Mexiko. Geile Fans, tolles, kohärentes Team mit großer Laufleistung, aber wie gewohnt zu spröde in den Gegenstößen. Lieferte gegen Brasilien einen packenden Kampf in einem 0:0 vom ganz obersten Regal, und wird mit einem Entscheidungsspiel ums Achtelfinale heute Abend gegen Kroatien belohnt.
Costa Rica. Uruguay (!) mit spielerischen Mitteln nach Rückstand besiegt, die Italiener in einem Hitzespiel sensationell 1:0 geschlagen – in der Gruppe der Weltmeister löste der größtmögliche Außenseiter schon nach zwei Spielen das Achtelfinalticket. Diese Jungs sind natürlich limitiert im 1-vs-1, sie sind nicht in der Lage, einen Konter schnell auszuspielen, und sie müssen aufwändiger spielen als andere Mannschaften, aber hier ist unbändiger Wille drin – ein Wille, der zurecht belohnt wurde.
Die Enttäuschungen:
Argentinien. Die unterirdischste Mannschaft bis dato, und da sind Russen und Griechen mit eingeschlossen. Gegen Bosnien eine schandhafte 5-3-2 Nicht-Vorstellung geliefert, und im zweiten Spiel vom Iran fast an die Wand gespielt. Es kuriseren Gerüchte, dass Kapitän Messi dem Coach Sabellas die Aufstellungen diktiert – aber ich tue mir schwer, die Wörter „Messi“ und „Lautsprecher“ im selben Kontext zu verwenden. Fakt ist aber, dass die taktischen Einstellungen der Gauchos bizarr waren, dass Messi sich kaum am Spiel beteiligt, dass Argentinien so gut wie keinen Esprit und keine Ideen in der Offensive andeutet, und dass im Angriff auch so gut wie nix außer Einzelaktionen geboten werden. Kann eine Mannschaft sich innerhalb eines Turniers finden? Natürlich, es gibt Beispiele zuhauf. Aber ein Team, das so out of sync auftritt wie Argentinien bisher? Da muss schon Gewaltiges passieren, dass das noch was wird. Immerhin ist man mit zwei Wackel-Siegen schon im Achtelfinale.
Griechenland, Russland. Zu wenig Tempo, zu wenig Mut. Die Griechen rennen wenigstens, aber wenn sie nicht über die Mitte kommen können, strahlen sie die Torgefahr von feuchtem Toastbrot aus. Die Russen spielen wie eine Capello-Mannschaft schon immer spielte.
Fernost. Ich hatte Japan und Korea beide ins Achtelfinale getippt, aber bislang nada. Die Japaner hatte ich deutlich wendiger, frischer, einfallsreicher in der Offensive erwartet. Die Koreaner hinterlassen mich ob ihrer stümperhaften Abwehrarbeit eher ratlos – was hat Hong Myung-Bo, der einstige koreanische Libero, mit dieser bei der letzten WM so disziplinierten Mannschaft da veranstaltet?
Belgien. Man könnte sagen, gut, wer gegen Russland nur drei ernsthafte Minuten spielen muss und trotzdem gewinnt, hat Qualität. Man kann aber auch auf die elanlosen Vorstellungen verweisen, und darauf, dass der belgische Geheimtipp nicht zündet. Die Einser-Formation im Angriff mit De Bruyne auf rechts und Lukaku im Zentrum ist ein Ausfall. Hazard ist noch nicht in der WM angekommen, und das Team wirkt als Komplex noch immer etwas führungslos.
Es gäbe mehr Teams mit spannendem Momentum, über die man schreiben könnte. Über einige wie Chile, Spanien oder Brasilien habe ich mich schon ausgelassen. Für andere wird die Zeit noch kommen.