Der Schuss ins Abseits

In „American Football“ steckt zwar das Wort „Football“. Doch nur zwei Positionen behandeln das Spielgerät in dieser so falsch getauften Sportart. Eine davon ist der Kicker. Er ist das speziellste Mitglied einer Footballmannschaft.

Das beginnt bereits mit der anerkannten Meinung, dass Kicker nicht als echte Footballspieler zu betrachten sind: Schlaffe Muckis, kein Testosteron, einsame Ruhe-vor-dem-Sturm Mentalität in einer Wagenburg-Sportart. Die gemeine Sicht des Durchschnittsamerikaners auf Kicker beschrieb Nick Bakay mal so: Kicker sind wie Frauen – sie haben keine Muckis in den Oberarmen, sie plärren viel und sie kosten mich Geld. Wie Frauen in der letzten Bastion der Männer.

Etwas subtiler ausgedrückt: Der Kicker ist ein Einzelkämpfer in der ultimativen Mannschaftssportart. Er muss sich keine Play-Books merken, er muss nicht seinen Kopf hinhalten, er muss nichts anderes machen als gelegentlich auf das Feld zu gehen und den Ball aus maximal 50 Metern zwischen zwei Stangen kicken. Klingt easy. Und führt doch zu so vielen Dramen.

Gerade aufgrund des Kicker-Debakels vom letzten NFL-Wochenende sind die Kicker mal wieder in aller Munde. So wie sie es nach jedem Fehlschuss in der Crunch-Time sind. So viel über sie geredet wird, wenn der entscheidende Schuss daneben geht, so wenig Beachtung findet ein erfolgreicher Versuch. Kicker sind wie Schiris: Am besten ist, wenn du sie gar nicht bemerkst.

Doch was das Kicken in der NFL so schwierig macht, ist wenig ergründet und von der NFL kaum gemessen (in der Combine machen Kicker dieselben Tests wie alle anderen). Einer der besten Artikel über die Psychologie des Kickens ist noch immer der nun bald 11 Jahre alte Artikel von Michael Lewis (der Moneyball-Autor!) „The Kick is Up and it’s… A Career Killer“ aus der New York Times.

„From this experience there are several lessons to be drawn. First, you should never leave any game before it’s over, because you never know what’s going to happen. Second, grown-ups watching sports say a lot of stuff with total certainty when they really don’t know what they’re talking about. And finally, it is extremely difficult for a field-goal kicker to be a hero. He can perform a miracle, but the world will always find some way to shove him back in his place.“

Er ist in Teilen ein mit raffinierten Fragen ausgeschmücktes Porträt eines der wenigen Kicker-Helden des Footballsports: Adam Vinatieri, der die Patriots 2002 und 2004 zum Superbowl-Sieg schoss und damit in den USA Legendenstatus besitzt. Es spielt keine Rolle, dass Vinatieri just in seiner zweiten Triumph-Superbowl zwei Fieldgoals verschoss. Sein siegbringender Kick wenige Sekunden vor Schluss bleibt für immer in Erinnerung.

Doch Vinatieri ist eher ein Einzelfall. Der langjährige Rekordhalter für das längste Fieldgoal ever, Tom Dempsey von den Saints, ist längst in Veressenheit geraten und die beiden berühmtesten Kicker neben Vinatieri, Scott Norwood und Gary Anderson, sind vor allem für ihre epischen Fehlkicks bekannt:

  • Norwood verschoss 1991 in allerletzter Sekunde der Superbowl das entscheidende Fieldgoal für die Bills. Buffalo verlor 20-19.
  • Gary Anderson, einer der besten Kicker aller Zeiten, verwandelte 1998 alle seine Kicks und Extrapunkte, verschoss aber im Conference-Finale ein vorentscheidendes Fieldgoal. Seine Vikings schieden aus und Anderson war auf ewig gebrandmarkt.

Das Stück weist auf etliche Facetten des Kicker-Daseins hin. Da wäre zum einen das Warten: Von 60 Spielminuten steht der Kicker vielleicht eine auf dem Spielfeld. Der Rest besteht aus Warten. Viel Zeit zum Nachdenken – dabei ist gerade das Nachdenken der denkbar schlechteste Rat für einen Place-Kicker. Denn keine Position im Football braucht so wenig Hirn: Es gibt keine Spielzüge zum Merken, kein Play-Design, keine Protections. Es gilt nur, seine Technik abzurufen. Doch just das gelingt so selten.

Auf das Feld trotten. Ruhe bewahren. Gedanken ausblenden. Schießen. Eigentlich leicht. Und doch so schwer, denn das menschliche Gehirn lässt sich nicht so einfach ausschalten. Es denkt immer mit, es überrollt dich mit Gedanken. Besonders schlimm, von Kicker-Kollegen verschießen – nicht selten, dass in unmittelbarer Nähe weitere Dramen geschehen. Denn das Pech des einen ist der schwarze Vorbote beim anderen.

Das Stück führt uns auch in die Routine Vinatieris. Mit der Offense am Feld beginnt die Konzentrationsphase, das langsame Einkicken. Je weiter die Offense marschiert, desto wahrscheinlicher wird ein Kick. Konzentrationsphase. Und dann die „Entspannung“, weil Punt oder Touchdown. Und so geht es bis zum nächsten Ballbesitz. Abwarten und Tee trinken. Aufs Feld trotten. Gedanken vertreiben. Schießen.

Das „Schießen“ ist dabei der einstudierte Teil. Wie Lewis und Vinatieri das Training beschrieben, klingt relativ bizarr. Es kreist vor allem um die oft belastete Beziehung zwischen Kicker und seinem Head Coach. Dessen größtes Ziel: Druck aufbauen, denn Kicker müssen unter Druck performen. Special-Teams Coachen werden gar nicht genannt. Sie scheinen sich vor allem um die Protection-Schemes zu kümmern.

Dabei führt jeder Satz, jeder Abschnitt, immer wieder zu dem einen Punkt: Kicken spielt sich im Kopf ab. In dieser Hinsicht ist das Kicken vielleicht am ehesten mit dem Elfmeterschießen im Fußball zu vergleichen, das auch ewig stigmatisierte Versager produziert, die wegen des einen Fehlschusses auf Jahre (oder im Fall des göttlichen Roberto Baggio: auf immer) beschädigt sind. Doch Elfmeterschießen kennt auch Helden. Kicken kennt fast keine Helden. Wer verschießt, fliegt, und findet sich schnell auf der Straße wieder.

Immer wieder floppen hoch gehandelte College-Kicker wie zuletzt Aguayo (hohe Trefferquote am College, als 2nd Rounder im NFL-Draft schnell gefeuert) oder Zane Gonzalez (2016 mit vielen Preisen bedacht, am Montag mit Schimpf und Schande gefeuert), während Vinatieri als bestenfalls mittelmäßiger Kicker aus dem College kam und in der NFL Legendenstatus erreichte. Justin Tucker, bester Kicker aller Zeiten? Ungedraftet.

Eine gängige Theorie behauptet, dass die Belastung eines Draftpicks zu viel Druck auf den Buckel des Kickers lädt – was zum Floppen einlädt. Doch das Problem könnte ein anderes sein: Scouting und Combine testen keine Qualitäten eines Kickers. Sport-Psychologen raten dazu, in Interviews die mentale Stabilität des Prospects zu ergründen (z.B. ihm Bilder von epischen Fehlkicks zu zeigen und gleichzeitig Pupillen und Herz-Frequenz messen). Doch es gibt wenig Hinweise, dass sich die NFL um solchen Firlefanz kümmert.

Die Deppen sind Leute wie Gonzalez oder Daniel Carlson, die traurige Berühmtheit erreichen. Doch ähnliches Versagen trifft zu auf die Verantwortungsträger der NFL, die zu wenig in die wirklich entscheidenden Dinge im Kicken investieren.

Kicker sind keine Pussys. Sie sind die exponiertesten Wesen am Spielfeld, mit der geringsten Upside und haben am meisten zu verlieren. Die Einsatzmomente sind rar und der Druck ist extrem. Das Problem ist nicht, den technischen Ablauf zu erlernen. Das Kriterium ist, ihn in der einen Chance abzurufen.

Auch Quarterbacks überwerfen Pässe auf offene Leute, Blocker verpassen Assignments und Receiver droppen Catches. Doch all ihre Fehler sind weniger offensichtlich als der Schuss an der Stange vorbei, den jeder sieht – und sie alle haben die Gelegenheit, den Bock nur wenige Augenblicke danach wieder gutzumachen. Sie haben viele Chancen.

Der Kicker hat nur die eine.

15 Kommentare zu “Der Schuss ins Abseits

  1. „Auf das Feld trotten. Ruhe bewahren. Gedanken ausblenden. Schießen. Eigentlich leicht. Und doch so schwer, denn das menschliche Gehirn lässt sich nicht so einfach ausschalten. Es denkt immer mit, es überrollt dich mit Gedanken. Besonders schlimm, von Kicker-Kollegen verschießen – nicht selten, dass in unmittelbarer Nähe weitere Dramen geschehen. Denn das Pech des einen ist der schwarze Vorbote beim anderen“.

    Exakt. Eine vorangehende Interception, ein Fumble sind verlorene Punkte die im Grunde schwerer wiegen, aber aller Augen sind auf den Kicker gerichtet.

  2. Danke für diesen schönen Text!

    Ein anderes empfehlenswertes Buch zum Thema (wenngleich es auch um die Leute am Ende des Rosters geht) ist „A few seconds of panic“ von Stefan Fatsis.

  3. hab im einem Football Verein mal als Kicker versucht,es ist schon schwer dieses Schweinsleder in die Stange zu schissen,vor allem die druck Situation wenn du weist das es der entscheidende kick ist.

  4. Der Vorteil am Elfmeterschießen ist natürlich, dass die Aufmerksamkeit zwischen dem Schützen und dem Torwart aufgeteilt wird. Ich habe bei theringer mal den Vorschlag gelesen, dass die Kicker an Stelle des Losverfahrens den Kickoff ausschießen könnten. Das vorgeschlagene Verfahren war, dass die Kicker wie beim Reizen immer größere Weiten vorschlagen müssen, bis einer „passt“. Dann muss der andere die Weite schießen. Das wäre irgendwie eine coole Leistungsschau, bei der man als Kicker positiv auffallen könnte.

  5. Danke für den Artikel. Ganz großes Kino!
    Als Kicker kannst du nur verlieren.
    Darum finde ich es bemerkenswert, dass die Packers Mason Crosby das Vertrauen geschenkt haben, obwohl er eine Saison für die Toone hatte (2012?!). Hat sich am Ende ausgezahlt.
    Wenn der von @Fred genannte Vorschlag ovn theringer eingeführt wird, wäre das super!

  6. Unverständlich, warum in der NFL, wo wirklich jeder Aspekt, der zu Punkten, bzw. Punktverlust führen kann, durchtrainiert- und analysiert wird, während gleichzeitig Kicker (der zweitwichtigste Mann nach dem QB), die teilweise ein Spiel ganz alleine entscheiden können, so stiefmütterlich behandelt werden.

  7. Super geschrieben! Toller Blogeintrag, danke! Es gibt hier einfach immer wieder viel zu entdecken und lernen, es ist wunderbar!

  8. Pingback: Sonntagsvorschauer 2018 – Woche 3 | Sideline Reporter - Eier, wir brauchen Eier!

  9. @Fred: Ja, unbedingt mal ausprobieren! 😀

    „Doch es gibt wenig Hinweise, dass sich die NFL um solchen Firlefanz kümmert.“ Schwer vorstellbar, dass ein Belichick, der aufgrund von Windsituation, Stadionlayout, Returner überwiegend Linksfüße als Punter engagiert, sich noch keine Gedanken über Kicker gemacht hat. Da dürfte es einige Dinge geben, von denen wir nichts wissen…

  10. Sehr interessant und sehr gut geschrieben!
    Bei dem Punkt gedraftete Kicker könnte man noch das ein oder andere Wort über Sebastian Janikowski verlieren. Er wurde ja sogar in der 1. Runde gedraftet.
    Super Blog hier, komme regelmäßig vorbei!

  11. Pingback: Sonntag live – Woche 4 | Sideline Reporter - Eier, wir brauchen Eier!

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