Im Gegensatz zu den Ravens gehören die San Francisco 49ers zu den klassischeren Franchises der NFL. Wie die Ravens sind die 49ers keine alltägliche Marke, sondern stehen für eine Philosophie, die von der Bucht aus die komplette NFL überrollte.
Dieses Bild der 49ers wurde überwiegend in den letzten 35 Jahren geschaffen. Vorher war man ein lieblicher Verlierer unter vielen gewesen. Titel und Schlagzeilen hatte der ungehobelte Nachbar auf der anderen Seite der Bucht, Al Davis mit seinen Raiders, abgestaubt, und die Kids in der Schule hatten Käppis mit Totenkopf getragen.
Der änderte sich Ende der 70er mit der Franchise-Übernahme des jungen Wilden Eddie DaBartolo und dessen Verpflichtung von Stanfords Head Coach (kommt uns bekannt vor, oder?) Bill Walsh, einem Offensivgeist, der die Denke des „dunklen“ Jahrzehnts („Run, Run, Run“) auf den Kopf stellte und den Profifootball von Grund auf revolutionierte: Statt Passspiel nur im dritten Down und mehr als 15yds to go implementierte Walsh ein attraktives Kurzpassspiel („West Coast Offense“) mit vielen Yards after Catch, und machte die 49ers innerhalb kürzester Zeit zu alljährlichen Superbowl-Anwärtern.
Walsh ist eine der NFL-Figuren, die wirklich nicht nur eine Franchise umkrempelten, sondern über die Epochen hinaus die komplette Liga revolutionierten. Um nicht mehr zu viel zu wiederholen, lege ich für eine detaillierte Auseinandersetzung mit Walsh eine Buch-Rezension von Herrmann aus dem letzten Jahr ans Herz: Wir lesen (3) – Bill Walsh. The Genius (David Harris).
Zur Implementierung von Walshs neuen Ideen brauchte es in allererster Linie einen passenden (durchaus im doppelten Sinne gemeint) Quarterback; Walsh bekam ihn in QB Joe Montana, einem Charismatiker, „nur“ in der dritten Runde gedraftet und mit hohem Spielverständnis und viel Präzision als besten Attributen – den großartigen Wurfarm für die vertikale Offense hatte Montana nicht.
Auch Montana profitierte: Er hatte genau eine Chance, in der NFL zu bestehen, und er fand sie in der West Coast Offense. Und Montana hatte Eiswasser in seinen Venen. Mit „Joe Cool“ als Spielmacher waren die 49ers nicht bloß ein Augenschmaus zum Anschauen, sondern schnell zweimal Superbowl-Sieger. Montana war auch nie um einen gelungenen Spruch verlegen, und so mutierte das Team schnell zum willkommenen Gegenentwurf zu den Westküstenrabauken der mittlerweile nach Los Angeles umgezogenen Raiders.
In oben verlinkter Walsh-Biographie wird wunderschön beschrieben, wie sich Walsh um jedes Detail kümmerte, bis hinein in die unscheinbarsten Draft-Belange. Er hatte Erfolg. Man muss sich das vorstellen: San Francisco war in der Saison 1984/85 bei 15-1 Siegen Superbowlsieger und addierte im folgenden Draft WR Jerry Rice zum Kader! In Zeiten, in denen 3000yds-Passjahre eine Seltenheit waren, fuhren die 49ers mit ihrer Armada jahrein, jahraus über die Konkurrenz drüber und staubten Ende der 80er zwei weitere Superbowls ab. Man war so fassungslos gut besetzt, dass man den Rücktritt Walshs und den Verkauf Montanas verkraften konnte und fast ein weiteres Jahrzehnt heißer Titelanwärter blieb!
Auf Montana folgte dessen Backup Steve Young, ein mobiler Linkshänder, der die 49ers-Offensive noch einmal um einen Level höher treiben konnte. Und obwohl man mit Young vermutlich besser war als jemals mit Montana, sehen die Fans Steve Young als leichte Enttäuschung, weil er nur einen Superbowl holen konnte – mehr muss man zur Erwartungshaltung der Fans zu dieser Zeit nicht mehr sagen. Mehr muss man auch nicht zur Qualität dieser Dynastie über fast zwei Jahrzehnte nicht sagen. Man blieb selbst dann noch ganz oben, als schon die halbe Liga im Trainerstab San Franciscos gewildert hatte und diese Coaches andernorts die „West-Coast“-Ideen verfeinerten (z.B. Holmgren in Green Bay).
Erst gegen Ende der Neunziger bröckelte das Gebilde: Owner DeBartolo musste nach Betrugsvorwürfen und familieninternen Streitereien die Franchise an seinen Schwiegersohn Jed York übergeben, und der milchgesichtige Jüngling York, keine 25 Lenze, hatte kein gutes Händchen beim Auswählen von Coaches und Draftpicks. Folge: Die einst dominanten 49ers quälten sich nach dem Karriereende Youngs (Gehirnerschütterungen) noch das eine oder andere Jahr mit dem ehemaligen CFL-Quarterback QB Jeff Garcia in Playoffnähe herum, aber schließlich fiel Mitte der 2000er das ganze Gebilde um Head Coach Erickson, Egomane Terrell Owens und Garcia in sich zusammen.
Neustart.
Auftritt Mike Nolan, seines Zeichens stets elegant gekleideter Defensive Coordinator der Baltimore Ravens. Nolan griff gleich mit seinem allerersten Draftpick, dem QB Alex Smith von der University of Utah, ins Klo und musste fortan bis zu seiner Entlassung um eine massive Identitätskrise herum basteln. Smith erwies sich nicht bloß als verletzungsanfällig, sondern galt in einem undefinierten Spielsystem mit ständigen Coordinator-Wechseln auch als schnell völlig verunsichert.
Folge: San Francisco mutierte zu einer ground’n’pound-Offense. Alte Schule. Siebziger Jahre. Genau das, was 49ers-Legende Walsh einst niedergerissen hatte. Die mutlosen Jahre unter Nolan und dessen Nachfolger, der Linebacker-Legende Mike Singeltary, sind das, was neuen Fans der letzten Jahre vielleicht geläufig ist, aber nichts an ihnen schrie nach „San Francisco 49ers“.
Singletary wurde schließlich vor zwei Jahren gefeuert, und York ging zurück zu den Wurzeln, an die nahe gelegene Stanfory University, und kaufte wie einst DeBartolo deren Chefcoach ein: Den ehemaligen NFL-Quarterback Jim Harbaugh. Harbaugh stand für drei Werte: Disziplin, Pragmatismus, Physis.
Im ersten Jahr würgte man sich mit einer vermeide-den-Fehler-um-jeden-Preis-Philosophie noch eher unansehnlich durch bis ins Conference-Finale, aber es war dieser abgelaufene Herbst, in dem Harbaugh sein Meisterstück ablieferte: Er sägte QB Alex Smith bei der erstbesten Gelegenheit ab und ersetzte ihn durch sein Ziehkind, den laufstarken Quarterback Colin Kaepernick.
Auch bei Kaepernick erinnert erstmal wenig an die 49ers-Geschichte: Ein Mischlingskind, tätowiert bis auf die Knochen, Granate von Wurfarm für tiefe Bälle nonstop, Sprinter vor dem Herrn. Aber unter Kaepernick schaffte man das eine: Die 49ers werden wieder über ihre Offense definiert.
Es ist kein Kurzpassspiel mehr, das an der Bucht praktiziert wird, sondern spektakuläres downfield–Passspiel kombiniert mit physischem Laufspiel und eingestreuten Elementen verschiedener College-Offenses („read option“) aus verschiedenen Aufstellungen („pistol“). Ein Angriff, der sich innerhalb weniger Monate von effizient und langweilig auf effizient und aufregend transformierte.
Sollte Harbaugh am Sonntag mit Kaepernick den sechsten Superbowl-Ring für seine Franchise holen, könnte das das erste Geläut auf dem Weg in eine neue prägende 49ers-Ära sein. Ohne West Coast Offense, dafür mit Tattoos, Option-Offense und downfield-Granaten.