Es mag Ironie der Geschichte sein, dass im Endspiel der Champions League 2012/13, das die UEFA dem englischen Fußballverband zum 150ten Geburtstag schenkte, ausgerechnet zwei deutsche Vereine im Wembley Stadium aufeinander treffen. Bayern gegen Dortmund, das ist vermutlich das Horrorszenario für Englands Fußball, und es wäre nichtmal so, dass die beiden Finalkontrahenten von ihren Auslandsimporten leben. Nein: Einige der Schlüsselspieler auf beiden Seiten mögen zwar Einkäufe aus Frankreich, Spanien, Brasilien, Polen sein, aber im Kern steht sich heute Abend das Gerüst der deutschen Nationalmannschaft gegenüber.
Vor einem Jahr bemängelte ich in der Vorschau zum CL-Finale 2012 den mangelnden Entwicklungstrieb beim FC Bayern und äußerte die Befürchtung, dass er möglicherweise in der Verwaltungsabteilung stecken bleiben würde. Ein Jahr später kann man diese Befürchtung in die Tonne kloppen. Die Vereinsführung zog aus der letzten Saison genau die richtigen Schlüsse und machte gelungene Einkäufe, darunter drei geniale:
- Dante als technisch feiner Innenverteidiger für den Spielaufbau.
- Martinez als passsicherer, spielintelligenter Sechser mit herausragenden Defensivqualitäten.
- Mandzukic als selbstloser, laufstarker Mittelstürmer, mit dem Offensivpressing und somit Verteidigung begonnen werden kann.
Dieses Trio ist genau das, was ich einst gefordert hatte. Dazu der quirlige Shaqiri als Kampfgnom von der Bank. Ein Jahr nachdem dem Bayern-Kader jegliche Tiefe abging, kann die Mannschaft locker die Langzeitausfälle von Jungs wie Badstuber oder Kroos kompensieren, rein zufällig zwei der großen, wenn auch oft unterschätzten Mannschaftsstützen.
Der FC Bayern 2012/13 funktioniert wie eine Maschine, sämtliche Automatismen greifen. Das Offensivpressing beginnt bereits ganz vorne mit dem fleißigen Mandzukic, und dahinter sieht die gesamte Mannschaft sehr kohärent, sehr einheitlich gepolt aus. Ich habe selten eine Mannschaft gesehen, die so konsequent, so zeckig presste wie Bayern – selbst ohne Mandzukic – im ersten Spiel gegen den FC Barcelona, dem wie auch Juve mit dieser aggressiven Spielweise komplett der Zahn gezogen wurde.
Die Flanken der Bayern dürften mittlerweile europaweit konkurrenzlos sein: Wenn du vorne Leute wie Ribery und Robben hast, die dahinter von einem Lahm oder einem Alaba nicht bloß abgesichert, sondern volle Pulle nach vorn unterstützt werden, und in Mandzukic und/oder dem zentralen Mittelfeld-Pärchen Schweinsteiger/Martinez beziehungsweise im Halbstürmer Müller jederzeit zwei bis drei mögliche Abnehmer haben, bringst du jeden Gegner in Zugzwang.
Dass die Mannschaft so stark greift, kann sich Jupp Heynckes ganz fett auf die Stirn kleben. Heynckes hat es geschafft, und ich hatte es nicht wirklich für möglich gehalten. Wenn ein Manuel Neuer (!) als sowas wie der „Schwachpunkt“ der ersten Garnitur ausgemacht werden kann, stehst du nicht mehr ganz zufällig zum dritten Mal in vier Jahren im Endspiel.
Vielleicht reicht die Bayern-Ausgabe 2012/13 qualitativ nicht ganz an die epische Barcelona-Mannschaft von 2010/11 heran, aber auch wenn diese Bayern nicht so extrem passsicher sind und keinen Messi haben: Sie sind einen Tick athletischer, kraftvoller, dynamischer, und treffen in meinem Fußballgaumen damit sogar den besseren Geschmack.
Bayerns Vorgänger als beste Mannschaft Deutschlands (Europas?) ist Borussia Dortmund, seit Jahren mein heimlicher, wenn auch viel zu früh gescheiterter, Titelfavorit. Nach zwei Meisterschaften und einem Aus in der CL-Gruppenphase, der Freak-Charakter besonderen Ausmaßes hatte (sagen wir: Das Anti-Malaga), ist der BVB 2012/13 wohl nicht mehr ganz so ausgefeilt, so Rad-in-Rad-greift-ineinander wie noch in den letzten beiden Jahren. Trotzdem ist das Werk des Jürgen Klopp nicht hoch genug einzuschätzen: Klopp hat da einen schwarzgelben Riesen gebaut, der es zuletzt regelmäßig schaffte, Bayern den Nerv zu rauben.
Die Mannschaft ist ein kleiner Gegenentwurf zu den FCBs: Im Herzen eine Spur passiver, weniger dominant, aber bei Ballgewinn überfallartig und mit den technisch feinen Einzelspielern im Vorwärtsgang nur schwer zu verteidigen. Götze, Reus, Lewandowski – das sieht an guten Tagen sogar noch dynamischer aus als beim FCB. Nun fällt allerdings ausgerechnet Götze allem Anschein nach aus; gleichwertigen Ersatz gibt es nicht – im Football würde man sagen, Klopp muss da mit wie „scheming“ antworten.
Ich sehe zwei große Fragezeichen: Das Spiel aus der Abwehr heraus krankt, weil insbesondere Subotic keinen sauberen flachen Ball über 10m hinkriegt, und das reine Rausdreschen gegen Bayern nach zwei Ballverlusten pro fünf Spielminuten riecht. Sollte Hummels tatsächlich ausfallen oder nur halbfit auflaufen können, wäre das eine extreme Schwächung insbesondere für das Dortmunder Aufbauspiel.
Zweites Problem ist die Zusammensetzung der Mittelfeldzentrale: Der sehr komplette Gündogan muss gesetzt sein, aber daneben gibt es für Klopp nur eindimensionale Optionen: Bender und Großkreutz mögen Kämpen sein, aber sie fallen spielerisch meterweit ab. Sahin ist die defensivschwächste Option; Kehl hat Routine und Abgewichstheit, aber ist zu langsam.
Die Lehren aus den bisherigen Saisonduellen waren: Klopp ist vorsichtiger geworden, als ob er plötzlich die Überlegenheit der bayrischen Ballkreisel anerkennen würde. Dortmund war im Vergleich zu den letzten Jahren in Sachen Einstellung und Körpersprache kaum wiederzuerkennen, wenn es gegen Bayern ging. Wird Klopp auch heute so zurückhaltend aufstellen? Das spräche gegen Sahin, für den zerstörerischen Bender.

Noch nicht vergessen oder verheilt – Das sollte Motivation genug sein.
Das Spiel hat das look’n’feel eines Ereignisses, die möglicherweise die Sichtweisen auf zwei Vereinsepochen definiert. Vor allem für den FC Bayern steht und fällt die Saison, ja die Ära Heynckes, mit dem Ausgang dieses Endspiels: Bei Sieg winkt ein Jahr nach dem Vize-Triple das „echte“ Triple, also jenes mit den Pokalen in der Vitrine. Bei Niederlage war die Rekordsaison viel gimmick, Hoeneß und Enttäuschung am Kulminationspunkt. Dortmund hat weniger zu verlieren: Das Endspiel ist, obwohl es sich für die Mannschaft wie der richtige Ort anfühlt, für den Verein und seine Fans schon etwas ganz Großes. Klopp hat da bereits mehr draus geformt als man von einem Club wie dem BVB erwarten konnte.
Die Fallhöhe für den FC Bayern ist natürlich eine ganz andere. Heynckes wirkt aber seit Montaten – spätestens seit der Bekanntgabe des Guardiola-Deals – extrem entschlossen. Da ist ein Mann on mission, will es allen nochmal zeigen. Möglicherweise wird es Jupps zweiter unfreiwilliger Abgang direkt nach dem Gewinn der Champions League (Madrid, 1998). Die Vorzeichen stehen gut: Im Gegensatz zu den letzten beiden Finals der Bayern sind diesmal keine Spieler zu Unrecht gesperrt (siehe: Ribery, Alaba).
Ich bin Bayern-Fan. Ich hatte in den Wochen vor diesem Endspiel lange das merkwürdige Gefühl, dass ich mit einem CL-Sieger „Borussia Dortmund“ keine Probleme hätte. Ich hätte es zugegeben immer noch nicht, aber mit jeder Minute, die der Kickoff näher rückt, wird klarer: Bayern muss diesmal den Pokal gewinnen. Die Kombination aus dem Katastrophenpotenzial einer weiteren CL-Endspielniederlage und dem Thrill, die beste Saison der Vereinsgeschichte gegen den größten innerstaatlichen Rivalen zu fixieren, macht dieses Spiel so einzigartig.
Von einem knappen BVB-Sieg bis zu einem Kantersieg der Bayern halte ich vieles für möglich. Spielen wir die Partie zehnmal aus, gewinnt Bayern – sagen wir – siebenmal.