Abschluss der EURO-Previewserie mit der schwierigsten Gruppe von allen: Der Staffel F mit den Mitfavoriten Frankreich, Portugal und Deutschland. Es sind die Sieger der letzten drei großen Turniere, und daher ist der Begriff der „Todesgruppe“ nicht weit hergeholt.
Ungarn
Das vierte Team sind die Ungarn. Sie sind in dieser Gruppe nur krasser Außenseiter und können eigentlich schnell abgehandelt werden: Sie werden nicht viel Ballbesitz sehen und müssen sich primär auf das Verteidigen und Kontern verlegen.
Ob das 3-5-2 vom sehr populären Coach Mario Rossi dafür geeignet ist und ob man die Spieler dafür hat um gegen solche potenten Gegner zu bestehen, muss man erst abwarten. Prinzipiell sind Leute wie Keeper Peter Gulasci oder Innenverteidiger Willi Orban (die Leipzig-Connection) schon die Stärke der Mannschaft.
Nach vorne symbolisiert Adam Szalai diese Mannschaft am besten: Ein Kämpfer vor dem Herrn, einer der sagt was er denkt, spielerisch limitiert und auch nicht der allerschnellste, aber man kann von vollstem Einsatz ausgehen.
Die Ungarn haben so gut wie keine Chance auf das Achtelfinale – aber vielleicht können sie mit etwas Glück und Geschick einem der drei Gegner einen Punkt abluchsen und damit zu einem bösen Stolperstein werden. Gegen Frankreich und Portugal haben sie zudem Heimvorteil in einem wohl lauten Budapester Nationalstadion.
As for the others: Schade, dass so viele Gruppendritte weiterkommen. Die „Stakes“ wären einfach extrem hoch, wenn einer aus dem Trio der Favoriten ausscheiden müsste. Zwar ist auch so keine Garantie, dass alle drei durchkommen (wer zwei Niederlagen kassiert, braucht schon einiges Glück in anderen Gruppen), aber die Intensität wäre so viel höher, wenn es nur zwei Achtelfinalplätze zu vergeben gäbe.
Anyhow: Ordentlich zur Sache wird es auch so zugehen. Alle drei können nur hoffen, dass sie den Nachteil des sehr späten Turniereinstiegs und der dadurch limitierten Recovery-Time (vier Tage weniger Verschnaufpause als die Gruppe A) einigermaßen kompensieren.
Frankreich
Frankreich ist der amtierende Weltmeister und Topfavorit des Turniers. Die Franzosen sind bei quasi allen Wettanbietern die #1 und wenn man sich die Spieler und den Trainer anschaut, dann ist es einfach zu verstehen, warum. Die Franzosen haben alles: Tiefe, Stars, Kontinuität – und jetzt auch Abgewichstheit.
Das beginnt bei Trainer Didier Deschamps. Der ist trotz ziemlich großer Erfolge als Clubtrainer und trotz des Weltmeistertitels gefühlt noch immer ein unterschätzter Taktikfuchs, denn er versteht es, seine Mannschaften zu einen und fast immer exzellent auf den Gegner einzustellen.
Deschamps ist mir zwar ein Dorn im Auge, weil er keine Scheu hat, Spiele komplett zu erwürgen (siehe: WM-Semifinale gegen Belgien), aber Ästhetik gewinnt keinen Preis. Deschamps hat das Glück, dass es trotz seiner manchmal grausigen Spielweise genug fantastische Offensivspieler gibt, denen man dann doch lieber zuschaut als wie bei Real-Madrid-Spielen einfach in den Teletext zu schalten oder im laufenden Spiel in Twitter zu versinken, weil am Feld nix passiert.
Das Motto im französischen 4-2-3-1 ist also: Die Null muss stehen. Der Abwehrverbund ist brutal kompakt. Keeper Hugo Lloris ist wahrscheinlich nicht mehr der Klassemann alter Tage, aber gut genug allemal. Die Abwehrkette mit Pavard rechts, Hernandez links und dem Innenverteidiger-Pärchen Varane und Umtiti-Nachfolger Presnel Kimpembe ist total stabil, und davor räumt das international eingespielte Duo Paul Pogba und N’golo Kante alles weg.
Ich denke, über Pogba/Kante muss man nicht mehr viele Worte verlieren, aber eine unterschätzte Stärke beim Bayern-Duo Pavard/Hernandez könnte ihre Körpergröße und damit ihre Kopfballstärke sein. Sie sind damit auch nach vorne Waffen, z.B. bei Standards.
Weil die Franzosen hinten fast immer alles abriegeln, hat das Offensiv-Trio/Quartett recht freie Hand. Prinzipiell ist gerade in wichtigen Momenten die Kombo Kylien Mbappe (rechts), Antoine Griezmann (Mitte/Zehner) und Karim Benzema (Neuner) zu erwarten.
Mbappe und Griezmann sind mit ihrem Speed brutal gute Konterstürmer und sind perfekt für Deschamps‘ Stil. Mbappe ist in lichten Momenten nicht weit vom Prädikat „weltbester Spieler“ entfernt, ist aber noch ein bisschen instabil und verletzungsanfällig. Griezmann hat zwei schwierige Spielzeiten in Barcelona hinter sich, aber die letzten beiden Turniere war er jeweils einer der zwei, drei besten Spieler überhaupt. Man tut sich schwer, bei Griezmann eine Schwäche zu finden.
Und dann Benzema, der Rückkehrer. In Madrid hat er eine extrem gute Saison gespielt und ist auch mit mittlerweile 34 Lenzen ein klares Upgrade gegenüber dem permanent umstrittenen Olivier Giroud. Wo es vielleicht Potenzial für eine Krise gibt: Giroud war mit seinem mannschaftsdienlichen Stil in den letzten Turnieren durchaus ein wichtiger Spieler – und jetzt wird er kurzfristig vom wegen Sextape und Erpressung eines Mannschaftskameraden lange Zeit ausgemusterten Benzema ersetzt.
Schon in der Vorbereitung soll Giroud von einigen Kollegen geschnitten worden sein. Aber das sind kleine „Hoffnungen“, an die man sich klammern muss, wenn man Schwächen bei den Franzosen suchen will. Man muss sich auch nur vor Augen führen, wer da alles von der Bank kommen könnte: Dembele, Ben-Yedder, Coman, Tolisso, Rabiot.
Und trotzdem: In den Playoffs reicht ein Ausrutscher. Die Franzosen wären nicht der erste Topfavorit, der am Ende mit leeren Händen dasteht. Verpasst man z.B. den Gruppengewinn, so lauert sofort ein unangenehmes Auswärtsspiel im Wembley-Stadion mutmaßlich gegen England, und danach könnte dann Spanien folgen.
Portugal
Wie es sich anfühlt, als Favorit den Titel zu verlieren, wissen die Franzosen spätestens seit der Finalniederlage vor fünf Jahren gegen Portugal. Jetzt kommt es zur Revanche schon in der Gruppenphase – und zwar gegen einen Gegner, der nominell besser besetzt ist als damals.
Die Portugiesen spielen wie Frankreich keinen attraktiven Fußball. Trainer Fernando Santos steht eigentlich in einer langen Reihe an Portugal-Coaches, die erstmal auf Sicherheit setzen, obwohl es eigentlich die notwendigen Spieler für ein Feuerwerk gäbe.
Dafür ist Portugal brutal gut eingespielt und taktisch extrem flexibel. 4-3-3, 4-4-2 oder 4-2-3-1 – alles schon gesehen. Oft spielen die Außenverteidiger sehr hoch, weil die Flügelstürmer gerne nach innen ziehen. Das geht alles gut, weil seit neuestem auch die Mitte von hochklassigen Spielern aus den größten Vereinen dichtgemacht wird.
Die Innenverteidigung ist eine der besten in diesem Turnier, mit dem MVP von Manchester City Ruben Dias und dem 38-jährigen, immer noch knochentrockenen Pepe. Im zentralen Mittelfeld räumen Leute wie Ruben Neves, Bruno Fernandes oder Palhinha ab – sie alle sind passsicher und können aus der zweiten Reihe abziehen. Ein Renato Sanches, mittlerweile konsolidierter ex-Bayern-Flop, bietet als kampfstarker Bulle eine Option als eher komplementärer Spielertyp.
Die erwähnt wichtigen Außenverteidiger sind Leute wie Dortmunds Raphael Guerreiro oder Joao Cancelo. Mega-gespannt bin ich darüber hinaus auf Nuno Mendes. Der ist erst 18 und dem Vernehmen nach der nächste in der mittlerweile unendlich langen Tradition an grandiosen portugiesischen Außenverteidiger-Talenten. Mendes könnte links zum Starter mutieren.
Tradition haben in Portugal auch fantastische Flügelspieler. Die Winger sind auch diesmal so gut besetzt, dass der 130-Mio-Mann von Atletico Madrid, Joao Felix, wohl nur Backup ist. Diogo Jota und ManCitys Bernardo Silva ziehen dafür als Stammspieler immer wieder mit Freude nach innen und bedienen den Mittelstürmer Ronaldo, der mit 36 noch immer Tore am Fließband produziert.
Aber ganz unumstritten ist Ronaldo nicht mehr – zumindest außerhalb von Portugal. Bei Juve munkelte man diese Saison trotz über 30 Saisontoren von Ronaldo immer wieder, dass das Team ohne ihn besser spiele. Als Ronaldo in der entscheidenden Schlussphase dann auf der Bank gelassen wurde, sicherte sich Juve nach der verkorksten Saison ohne den Superstar schließlich doch noch die CL-Qualifikation.
Ich kann mir aber beim besten Willen nicht vorstellen, dass Frankfurts Andre Silva den Vorzug bekommt. Vielleicht spät als Joker. Aber never, ever als #1 vor Ronaldo – dann eher noch eine Stammposition am Flügel für Silva. Aber so ist das mit den Portugiesen: Da sitzt ein 28-Tore-Mann nur auf der Bank, und keinen juckt’s. So gut ist dieses Team besetzt.
Deutschland
Bleibt Deutschland, das mit einer seltsamen Mischung aus Titel-tauglichem Spielermaterial und Kaderstabilität eines Kartenhauses in die EM geht. Die meisten Leser werden besser wissen, was Deutschland im letzten Monat von Jogi Löw charakterisiert, also bringt eine ellenlange Auseinandersetzung mit dem „Jogi Conundrum“ jetzt grad nix.
Punkt ist: Löws „Reform“ ist ziemlich schief gelaufen. Die Rückholaktion von Müller und Hummels kann man Löw trotzdem positiv auslegen, denn sie zeigt nicht mehr für möglich gehaltene Fähigkeit zur Selbstreflexion. Löw sprang über seinen Schatten und gibt dem Leistungsprinzip wieder etwas Bedeutung zurück.
Es ist halt total offen, ob die deutsche Mannschaft stabil genug und schnell genug stabil genug sein kann um diese brutale Gruppe schadlos zu überstehen. Das Personal gibt theoretisch einiges her.
Neuer ist seit drei Jahren wieder einer der besten Tormänner der Welt. Hummels ist noch immer einer der besseren Innenverteidiger auf dem Markt und Antonio Rüdiger hat mit Chelsea als Chef-Abräumer die Champions League gewonnen. Sie bilden ein formidables IV-Pärchen, wo Süle und Robin Koch seit dem Spanien-Spiel verbrannt sind.
Im zentralen Mittelfeld hat Löw mit Kroos, Goretzka, Gündogan und sogar Florian Neuhaus so viele Optionen, dass man einen Joshua Kimmich ohne weiteres auf Rechtsverteidiger stellen und damit eine potenzielle Schwachstelle schließen kann – zumindest im 4-3-3. Löw muss eigentlich 4-3-3 oder das eigentlich eingemottete 4-2-3-1 spielen, denn 3-4-3 kannst du nach dem spanischen 0:6 nicht mehr vermitteln.
Das einzige Manko an Kroos, Goretzka, Gündogan: Sie verschleppen manchmal das Spiel. Oder geht das nur mir so? Das frühere Tempo ist nicht mehr da. Dafür sind sie ballsicher und kreativ.
Linksverteidiger bleibt ein Schwachpunkt, aber sonst sind die Optionen nach vorne nahezu unbegrenzt, auch wenn es keinen richtigen Mittelstürmer gibt. Müller sollte gesetzt sein. Gnabry ist mit seiner Kombination aus Technik, Physis und Geradlinigkeit einer meiner Lieblingsspieler. Ich hoffe, er ist fit genug und wird nicht zu sehr in einer unpassenden Rolle im Sturmzentrum aufgerieben.
Ein Leroy Sanè wird in Deutschland leidenschaftlich gern kritisiert, aber er bringt Breite ins Spiel und ist ein exzellenter Dribbler. Ihn nicht mit nach Russland genommen zu haben war einer der größeren Fehler von Löw.
Havertz wirkt auf mich manchmal etwas langsam, aber er ist ballsicher und spielintelligent. In der Phase, als ich mehr Chelsea-Fußball schaute, war Havertz meistens okay, aber meine Kumpels stecken mir: Das war im Lauf der Saison nicht immer so.
Timo Werner bringt vor allem Speed. Er reißt Lücken und ist technisch gerade gut genug um trotz vieler frustrierender Momente ein Argument für eine größere Rolle zu haben. Und vielleicht schlägt ja auch die Stunde vom jungen Bayern-Juwel Jamal Musiala, der als dribbelstarker Feintechniker ein ganz eigenes Skill-Set mitbringt.
Also: So viele Skill-Sets, aber so wenig Zeit um nach drei Jahren glücklosen Experimentierens eine funktionierende Einheit zu formen. Deutschland trifft an den ersten beiden Spielen auf Frankreich und Portugal. Im Auftaktspiel sehe ich eine Außenseiter-Rolle und nur mit viel Glück eine Chance auf einen Punktgewinn. Aber in Spiel zwei muss prinzipiell zumindest ein Remis her um das Achtelfinale mit einem klaren Sieg über Ungarn zu sichern.
Vielleicht fuchst sich die Mannschaft ja dann mit der Zeit ins Turnier und findet ihren Groove. Im Gegensatz zum Fiasko in Russland sind diesmal die meisten Leistungsträger gut in Form – und hungrig. Ich bin vielleicht momentan der einzige, aber so verwegen finde ich die Vorstellung nicht, dass sich diese Mannschaft findet und im Playoff-Verlauf dann zu einem gefürchteten Gegner hochschwingt, vor dem alle erzittern. Aber das ist wohl nur überhaupt erst dann möglich, wenn der Auftakt gelingt.
Denn mit zwei schnellen Pleiten könnte die Geschichte der EURO 2021 für Deutschland auch ganz schnell schon am Samstag wieder vorbei sein, und das würde dann auch massiv am Erbe der ansonsten sehr erfolgreichen Ära Löw kratzen.
Mal wieder ne tolle Vorschau Serie in klassisch qualitativ-guter korsakoff Manier 😀
Dein Gefühl, dass Kroos oder Gündogan manchmal das Spiel etwas verschleppen, teile ich durchaus. Mir gefallen da Kimmichs Pässe in die Tiefe (sowohl hoch auf Gnabry oder Müller, aber auch flach) doch besser, da ich sie für zielstrebiger halte. Auch wenn sie ein höheres Risiko eines Ballverlustes mitbringen, sind sie wenigstens konsequente Versuche, ins letzte Spielfelddrittel zu kommen. Auch Hummels spielt immer mal wieder diese hohen oder flachen Pässe in die Tiefe. Eigentlich hat man da vorne ja technisch top ausgebildete Spieler, die solche Bälle dann auch verarbeiten können.
Bin mal echt gespannt, wie sich das Spiel heute und dann am Samstag gegen Portugal gestaltet. Auf dem Papier hätte Deutschland ja nen tollen talentierten Kader. Gehe da mit deiner Einschätzung mit, dass es sowohl klasse laufen kann wenn man nen Groove findet, aber auch richtig in die Hose gehen kann…
Ja, klasse Vorschau. Auch den Hut-ab vor Löws Selbstreflexion finde ich absolut angebracht.
„Verschleppen“ ist ein Stichwort, das mir gestern bei Spanien-Schweden siedendheiss durch den Kopf geschossen ist. Das ist im Fußball echt ein Problem: Ein Team mauert nur, schlägt den Ball raus und bekommt für die Spielzerstörung einen Punkt. Aber wie Du sagst: Mit Schönheit allein gewinnt man nichts.
In meinen Augen zeigt es, dass sich Teams wie Schweden/Türkei selbst für unfähig halten, konstruktiv gegen Topteams zu spielen. Schade für die Fans.
Wahrscheinlich stehe ich damit allein da, aber: Mir wäre lieber „die Mannschaft“ brennt ein Feuerwerk an begeisterndem, spektakulären Fußball ab und scheitert, als dass sie „Catenaccio 2.0“ auflegt und sich irgendwie mit einem duseligen Konter zum Titel mauert.
Gewinnen ist nicht alles. (Hallo Materazzi)
@JogiLöw: Go out with a bang!!! 😀
Havertz ist eher in Richtung „kumpel“ unterwegs 😦
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