Seattle Seahawks in der Sezierstunde

Die Seattle Seahawks knabbern auch zwei Monate nach dem bizarren Superbowl-Finish noch an ihrer vermeidbaren Pleite. Eine so große Chance bietet sich nicht alle Tage. Das Fenster des Erfolgs bleibt zwar noch zumindest diese anstehende und nächste Saison offen, aber Seattle hat es bereits jetzt schwerer, die Kadertiefe und die Kontinuität zu erhalten.

Außerdem verliert man den zweiten Defensive Coordinator in den letzten drei Jahren, aber Pete Carroll scheint eh einen recht einheitlichen Geschmack zu haben was seine Coordinators angeht, insofern dürfte der Wechsel nicht so haarig sein wie manche vielleicht denken:

Kris Richards ist der Name des Neuen. Seine Defense verabschiedet in den DTs O‘Schofield und Kevin Williams, LB Malcolm Smith und CB Byron Maxwell drei Rotationsspieler. Ersetzt werden sie durch die CBs Cary Williams und Blackmon sowie durch DT Ahtyba Rubin aus Cleveland. Auf den ersten Blick ist das kein allzu großer Leistungsabfall, aber wenn man bedenkt, welche Probleme Seattle bereits in der abgelaufenen Saison in intensiven Spielen mit lang andauernden Grabenkämpfen hatte, hätte man die Tiefe lieber vergrößert als den Status gehalten.

Dass man Cary Williams insgesamt 7 (!) Mio. guaranteed money nachschob, verwundert angesichts des „Hexers“ Carroll in seinem Defensive Backfield fast genauso wie einige der Moves, die man in der Offense machte.

Die Startelf bleibt weiterhin state of the art in der NFL, aber mal ehrlich: Um auch nur einen Backup in diesem Kader benennen zu können, musst du ein NFL-Freak der heftigsten Sorte sein, einer, der bis spätnachts die aktuellen Roster der Teams auswendig lernt. Es gibt schlicht keinen bekannten Mann hinter der Topelf, und sollte der deutlich unterbezahlte DE Michael Bennett mit seinem angedeuteten Vertragsstreik ernst machen, wird die Situation nur prekärer.

Die Dramatisierung halte ich für nicht unberechtigt, weil sich schon letztes Jahr zeigte, dass Ausfälle bzw. Einschränkungen von Leuten wie DT Mebane, LB Wagner, CB Sherman, SS Chancellor, FS Thomas oder auch nur CB Lane nur relativ holprig weggesteckt werden konnten. Man ist also auf Fortuna bei der Gesundheit seiner Spieler angewiesen.

Offense

Der Trade für TE Jimmy Graham aus New Orleans wirkte ein wenig wie der Versuch, die Geister der Superbowl zu vertreiben. Graham ist ein verkappter Wide Receiver, der Wilson die eine Anspielstation geben soll, die letztes Jahr noch gefehlt hat. Graham war in der passgewaltigen Offense der Saints der wichtigste Schachstein, aber es bleibt abzuwarten, ob er im nasskalten Freiluftstadion von Seattle einen ähnlichen Einfluss nehmen kann wie im wohltemperierten Superdome zu New Orleans.

Der Preis für Graham war beträchtlich: 1st-Rounder plus C Max Unger. Damit verkauft man zwei Jahre nach Harvin erneut einen 1st-Rounder für eine Anspielstation, wenn auch jeweils relativ hohe Erstrundenpicks. Unger ist nicht der einzige Abgang der Offensive Line, denn auch LG Carpenter floh in die Free-Agency.

Seattle muss somit den Stabilistationsfaktor Unger und einen – wenn auch nicht immer verlässlichen – Starting-Guard in seiner eh schon wackeligen Offensive Line ersetzen. Ohne First-Rounder. Seattle weiß, wo es im Draft ansetzen muss.

Auf Wide Receiver kommt man seit Jahren mit einem bestenfalls durchschnittlichen Corp durch, und nun hat man neben den Konsorten um Kearse, Baldwin und Richardson auch noch einen Graham, der Potenzial birgt. Auf Runnnigback dagegen schließt sich das Fenster langsam: RB Lynch wurde ein massiver Deal gegeben, und keiner weiß ob Lynch noch länger als ein Jahr machen wird. Seine Backups Turbin/Michael gelten als nicht wirklich geprüfte Stellen, aber Seattle hat kaum mehr Ressourcen um hier wirklich mit Nachdruck aufzubessern.

QB Russell Wilson wird in Kürze seinen neuen Vertrag bekommen. Dieser Vertrag wird Seattle kurzfristig nicht überaus krass belasten, weil man die Jahresgehälter so verteilen kann, dass man die Salary-Cap nicht dauernd überstrapaziert. Aber Wilsons Vertrag wird weitere mittelfristige Einschränkungen bringen.


Seattle wird in der bestehenden Form noch zumindest 2015 und 2016 durchkommen, bevor der Hammer zuschlägt. In diese beiden Jahre hat man seine ganzen Ressourcen geladen, um das Fenster des Erfolgs zu nutzen. Das ist nicht verwerflich. Aber man merkt bereits heute, dass sich die vielen Vertragsverlängerungen für die wertvollen Eigenbauprodukte um Thomas, Sherman oder Chancellor langsam in einem Abfluss an Kadertiefe bemerkbar machen.

Seattle bleibt ein Titelanwärter, so es von zu großem Verletzungspech verschont bleibt. Aber schon diese Offseason hat bestenfalls noch ein Festklammern am Status Quo gebracht, keine wirkliche Verbesserung. Der oft maue Pass Rush kann personell nicht wirklich aufgemotzt werden, die Offensive Line bleibt eine Patchwork-Familie, und in der Front-Seven darf sich kein Leistungsträger verletzen.

Seattle hat sich von seinem Erfolgsmodell der Jahre 2010-2011 verabschiedet. Man lädt alles rein um noch einen oder zwei Superbowls mitzunehmen, ehe der Laden auseinanderzufliegen droht. Riskant, aber verständlich.

7 Kommentare zu “Seattle Seahawks in der Sezierstunde

  1. super Artikel!! Differenziert betrachtet und viele Blickwinkel einebzogen. Finde deinen Ausblick für die Seahawks interessant und die These, dass die Seahawks auf Pump und nicht auf Dynastie aus sind.

  2. „aber Pete Carroll scheint eh einen recht einheitlichen Geschmack zu haben was seine Coordinators angeht, insofern dürfte der Wechsel nicht so haarig sein wie manche vielleicht denken“

    hehe, sehr sehr geil 😉

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