Mutter aller Niederlagen

Heute jährt sich „Barcelona 99“ zum 20ten Mal. Als Mutter aller Niederlagen ist es bis heute das prägnanteste Sportereignis, das ich erlebt habe. Im Endspiel kurz vor Schluss zu führen, fühlte sich für mich als kleinen Bub schon damals wie ein Traum an. Ein Traum, der innerhalb von Sekunden zum Alptraum wurde.

Ein „aus allen Wolken fallen“ wie bei einer Fußballpleite in der Nachspielzeit ist im American Football kaum möglich – dafür fallen zu viele Punkte und dafür sind größere Comebacks eindeutig zu häufig. Was Barcelona 99 überdies so außergewöhnlich machte, war der Umstand, dass es sich um ein Finale handelte.

Es ist die einzige Niederlage, die ich bis heute nie verwunden habe. Ich glaube, der einzige Moment, in dem ich sie verwinden kann, ist, genau so eines Tages auch die Champions League zu gewinnen. Was nicht passieren wird, weil Barcelona 99 nie mehr passieren wird.

Der Gedanke an diesen Tag, an dem ich Rotz und Wasser heulte und wie Kuffour unsere Couch verprügelte, weckt in mir die Idee, ein vergleichbar brutales Finish im US-Football zu suchen. Das einzige Kriterium: Ich muss es selbst erlebt haben – also kein Platz für Immaculate Reception und derartiges Stöbern in den Untiefen der Footballgeschichte.

Eines der heute unterschätztesten Finishes der letzten 20 Jahre war das 13 men on the field Spiel 2010 zwischen LSU und Tennessee. LSU hatte gerade seinen letzten Spielzug verhühnert, doch weil im kompletten Chaos des wilden letzten Spielzugs die Defense der Tennessee Volunteers sich nicht richtig abzählte, gab es für die Jungs vom grasfressenden Headcoach Les Miles eine allerletzte, niemals mehr erwartete Chance. Sie nutzen sie zum TD.

Das Meadowlands-Miracle II 2010 ist eines dieser ultrabizarren Finishes mit einem Sieger aus völlig heiterem Himmel. Zwar hatten die Eagles innerhalb des Schlussviertels bereits einen 21-Punkte Rückstand aufgeholt, aber als die Giants acht Sekunden vor Schluss den Ball weg-punten mussten, konnte niemand mit diesem sensationellen Return rechnen. Er kam aus dem Nichts.

Aber beide Partien haben eine entscheidende Schwäche: Sie passierten in der Regular Season. Und so sehr sie Derek Dooleys Amtszeit nachhaltig beschädigte bzw. das Divisionsrennen in der NFC North in jener Saison entschied, so weit weg ist Woche 15 von der Güteklasse eines Endspiels.

Schon näher dran war die prickelnde Fiesta Bowl von 2007, als Boise State nach grandiosem Kollaps ein paar Sekunden vor Schluss mit einem Touchdown Rückstand an der Mittellinie stand – und den Razzle-Dazzle auspackte und mit bereits ausgelaufener Uhr im letzten Spielzug den Ausgleich schaffte. Doch Fiesta Bowl ist nicht Champions League, und Boise rettete sich mit dem Sensations-TD „nur“ in die Overtime.

Als Ian Johnson in der Overtime per 2-pts Conversion Trick-Play („Statue of Liberty“) den Sieg bescherte, war der Schocker-Moment bereits verflogen bzw. durch einen noch viel größeren Moment ersetzt: Dem Staunen, dass sich eine Mannschaft in der Crunch-Time eine derartige Latte an verschiedenen Trickspielzügen auszupacken traute.

Fiesta Bowl 2007 war ein Finish für die Äonen, aber Barcelona 99 lebte vom unbegreiflichen Sekundentod. Es war kein langsamer Tod wie z.B. im Bayern-Finale 2012 gegen Chelsea, den man mehr als eine halbe Stunde lang riechen konnte und der immer gewisser wurde. Es war ein Tod aus dem Nichts.

Barcelona 99 war auch eine Partie, die vom späteren Verlierer Bayern im Prinzip dominiert wurde. Bayern ließ nach dem 1:0 kaum Chancen zu – im Gegenteil: Scholl und Jancker trafen Pfosten und Latte und es war ein Wunder, dass es in der letzten Minute nur mit einem Tor führte.

Dieses „Dominieren und den Sack nicht zumachen“ ist das, was mich beim Gedanken an kritische Footballpartien an das NFC-Finale 2014/15 erinnert: Die Green Bay Packers, die von der 1-yds und ½-yds Linie wieder und wieder Fieldgoals schossen (zwar nicht an Latte und Pfosten, aber es fühlte sich angesichts der verpassten Touchdowns so an) und am Ende brutalst durch unfassbare Seahawks-Spielzüge ausgekontert wurde und eine lange Zeit eindeutig dominierte Partie noch herschenkten.

Packers @ Seahawks war ultradramatisch und gekrönt von einem unfassbaren Ende, aber es war mehr ein „Minutentod“ als ein „Sekundentod“.

Die Seahawks starben ihren eigenen Sekundentod zwei Wochen später in der Superbowl, als sie wie der sichere Sieger aussehend kurz vor der Endzone standen, drei Spielzüge noch im Petto hatten um den Touchdown zum Sieg zu markieren, eine leichte Übung eigentlich – und Russell Wilson die brutalste Interception der NFL-Geschichte warf.

Was jenes Superbowl 2015 von Bayern vs. Manchester unterscheidet: Der völlig überraschende Verlierer war die Mannschaft, die bereits in Rückstand gelegen hatte. Es ist eine Situation, die im Fußball so nicht passieren kann, weil kein Treffer doppelt zählt. Allenfalls ein verschossener Elfmeter in der letzten Minute und folgendes Ausscheiden durch Auswärtstorregel wäre damit vergleichbar. Doch sowas passiert im Fußball nie im Endspiel.

Wir hatten schon die eine Superbowl mit Patriots-Beteiligung – und wir scheinen an Gewicht ein Endspiel zu brauchen um unser Football-Äquivalent zum CL-Finale 1999 zu finden.

Eine andere Patriots-Superbowl kommt vielleicht nicht an „Sekunden-Tod“ an jenes Fußballspiel heran, aber an dieses Gefühl der unfassbaren Leere. Es handelt sich um Patriots vs. Falcons 2017, als New England schon mausetot aus dem Rennen war, ehe die Patriots in rund 25 Minuten unerklärlichem Football ein Comeback für die Äonen starteten und aus einem 3-28 Rückstand noch Ausgleich und Sieg machten.

Patriots vs. Falcons war keine Pleite in der Nachspielzeit. Es war aber vielleicht die Pleite, die mich mit dem flauesten Gefühl aller Footballspiele ever hinterließ. Sie fühlte sich so „falsch“ an wie die Bayern-Pleite 1999. Dass die atemberaubend schöne Falcons-Offense von 2016/17 nicht mit dem Titel belohnt wurde, ist bis heute die größte Ungerechtigkeit meiner NFL-Zeit.

Doch es war nicht die bitterste Footballpleite, an die ich mich erinnern kann. Die passierte neun Jahre zuvor, als New England die erste Superbowl gegen die Giants verlor. Es wäre zwar vermessen zu behaupten, dass das kurz vor der Vollendung der einzigartigen Perfect 19-0 Season stehende New England das Finale gegen die Giants kontrolliert hätte – im Gegenteil, die Patriots mussten sich ihre 14-10 Führung blutig hart erarbeiten.

Doch dann führten sie eineinhalb Minuten vor Schluss trotzdem. Und sie kontrollierten den Gegner. Sie hatten ihn schließlich am Abgrund. 2nd Down & 10, eine Interception griffbereit in den Armen von CB Asante Samuel, aber gedroppt. Trotzdem ein Gewinn für die Defense, denn es folgte 3rd & 10.

Und dann kam Tyree, der glanzvolle Helmet Catch und der Stich ins Herz all jener, die auf die unerreichbar scheinende Perfect-NFL-Season gehofft hatten.

Doch Tyree war nicht der Fänger des entscheidenden Touchdowns. Er war nicht Solskjaer. Er war eher Teddy Sheringham, der die Träumer aus ihrer Fantasiewelt holte, zurück in die Realität. Er war nur der Wegbereiter. Den finalen Todesstoß setzte Plaxico Burress mit dem dann unvermeidlichen Touchdown zum Sieg der Giants.

Doch so unvermeidlich wie Burress war Solskjaer nicht. Manchesters Ausgleichstreffer war ein Dolchstoß, aber es war unvorstellbar, dass auf jenen Moment nur Sekunden später ein noch viel bittererer folgen würde. Als Tyree seinen Helm-Catch fing, war klar: Die Giants werden die Partie gewinnen und die Perfect-Season ruinieren. Auch wenn es nicht formell klar war. Der Sieg-TD war nur noch Frage von Zeit und Fänger. Das Solskjaer passieren konnte, stand nie im Raum – bis er seinen Zeh hinhielt.

Ein ähnliches Szenario gab es im College-Football National Championship Game 2018, als Georgia in der Overtime 23-20 gegen Alabama in Führung ging und dann im ersten Spielzug der Alabama-Serie den QB Tua Tagovailoa für 16 Yards im Backfield sackte. Es war ein Moment, in dem sich die Partie entschieden anfühlte, ehe Saban „Four Verts“ aus dem Play-Book grub und Tagovailoa mit einem Pass wie einem Erdbeben die Partie aus dem Nichts, nein: aus dem Gar Nichts, komplett drehte.

Dieser Moment hat viele Ingredienzien von Barcelona 99: Ein Schocker von Comeback ohne Vorwarnung im Endspiel, ein Unterlegener der seit Jahrzehnten auf seinen nächsten Titel wartete und einen Matchwinner, der erst im Laufe der Partie eingewechselt wurde. Vielleicht ist Tuas Overtime-Pass der beste Football-Vergleich für das, was sich damals im CL-Finale abspielte. Doch es war nicht die allerletzte Spielsekunde und es war nicht der allerletzte Spielzug.

Wenn wir dieses Kriterium mit betrachten, so müssen wie an Barcelona-99 vergleichbare Football-Tode auf Partien zurückgreifen, die auf dem Papier keine „Endspiele“ waren.

Die erste von ihnen ist das „Minnesota Miracle“ aus dem Jänner 2018. Es dürfte auch jüngeren Footballfans lebendig in Erinnerung sein. Vikings kontrollieren die ganze erste Halbzeit und weite Teile der zweiten, doch New Orleans geht kurz vor Schluss dann doch noch in Führung. Die immer lahmer gewordene Vikings-Offense kann eigentlich keinen Konter mehr setzen…

ehe QB Case Keenum im allerletzten Spielzug des Spiels den tiefen Ball wirft, der Saints-Verteidiger ins Leere springt und Stefon Diggs unberührt zum Sieg-Touchdown durchläuft. Für die Saints war die Pleite so bitter, weil sie um die Einzigartigkeit ihrer Titelchance wussten – mit einem alternden QB Brees kurz vor dem Karriereende. Viele Chancen würden nicht mehr kommen. Mit dem Sieg vor Augen war es das denkbar brutalste Ende, das eine Footballpartie nehmen kann.

Das Minnesota Miracle war unfassbar und entstand aus dem Nichts, aber war es wirklich krasser als das, was die US-Folklore heute „Kick Six“ getauft hat?

Kick Six ist der Übername für den allerletzten Spielzug im „Iron Bowl“ zwischen Alabama und Auburn 2013 – kein „Endspiel“ im klassischen Sinn, aber wenn wir so wollen für die beiden Mannschaften der alljährliche Höhepunkt im Spielplan, die Partie, bei der es darum geht, wessen Anhänger Lokalrivalen in den folgenden 12 Monaten aufziehen können.

Die Ausgangslage war klar: Der Sieger würde das Conference-Finale und damit die Chance auf das Landesmeisterschaftsfinale bekommen. Es stand remis und Alabama bekam nach Schiedsrichterentscheid in der allerletzten Spielsekunde die Chance auf ein langes Fieldgoal zum Sieg.

57yds Entfernung sind kein Zuckerschlecken, insbesondere nicht am College. Doch es gibt wenig Downside, in der letzten Sekunde den Schuss zum Sieg zu versuchen. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und sonst kannst du noch immer in die Overtime gehen.

Doch das Spiel ging nie in die Overtime, und der Kick ging auch nicht rein. Vielmehr trug Chris Davis mit längst ausgelaufener Uhr den zu kurz geratenen Schuss zurück zum Touchdown und zum absolut fassungslosen Auburn-Sieg, so unerklärlich wie das, was einst in Barcelona passierte. An answered prayer. Es war nicht Champions-League Finale, aber die Anhänger beider Fanlager würden argumentieren, dass es ihnen gleich viel bedeutete als wäre es eines gewesen.

Kick Six war der grandioseste Footballmoment in einer Dekade, in der es an grandiosen College-Football Momenten nicht mangelte. Er war vielleicht sogar grandioser als alles, was die NFL im vergleichbaren Zeitraum bot – und das war, wie anhand der Länge dieses Artikels, der nur die absoluten Highlights tangiert, unschwer ablesbar ist, nicht wenig.

Ich weiß, dass Kick Six zumindest mich trotz allem nicht derart tief getroffen hat wie das CL-Finale 99, was auch daran liegen mag, dass ich zu beiden „Vereinen“ / Universitäten weit weniger Bezug finde als zum einzigen deutschen Fußballverein, der es mit den Italienern aufnehmen kann. Doch unabhängig davon ist es der einzige Footballmoment, der es zumindest in Ansätzen mit der emotionalen Tiefe der Nachspielzeit vom 26. Mai 1999 aufnehmen kann.

7 Kommentare zu “Mutter aller Niederlagen

  1. Schöner Rückblick auf viele spannende Football Momente.

    Tuas OT Pass ist für mich das, was in Dramaturgie dem CL Finale 99 am nächsten kommt.

  2. Ich kanns dir nachempfinden, Korsakoff. Ich weiß es auch noch, als wenn es gestern gewesen ist.
    Meine Uroma feierte 75. Geburtstag und ich konnte das Spiel als 9-jähriger Stift nur im Radio verfolgen. Auf der Heimfahrt stand es bis zum Schluss 1-0 für meine geliebten Bayern. Zu Hause angekommen traute ich meinen Augen nicht. War eine tränenreiche Nacht und fast schon ein traumatisches Erlebnis.
    Happy End: Die Bayern haben den Henkelpott seitdem 2x nach München geholt und viel schöner: wir haben heute den 95. Geburtstag der Uroma gefeiert und sie ist trotz hohen Alters wohl auf.:-)

  3. Es wäre gerechtfertigt, beim Rückblick auf 1999 das Jahr 2001 zu erwähnen. Was Kahn da im finalen Elfmeterschiessen von der Linie gekratzt hat… TITAN.
    Bei allem, was er so an Zweifelhaftem im TV daherredet, seine übermenschliche Leistung im Finale werde ich nie vergessen.

  4. Damals bei der Bundeswehr gesehen, als einzigster Nicht Bayern Fan unter Bayern Fans war das für mich sehr schön und ich werde es ebenfalls nicht vergessen 🙂

  5. Ich hatte dafür ein Jahr später in Unterhaching ein traumatische Erlebnis. Und nach dem Spiel musste ein Radio reporter vom Bayerischen Rundfunk ausgerechnet mich befragen, warum meine Mannschaft es vergeigt hat.

  6. Pingback: Als die Vuvuzelas verstummten | Sideline Reporter - Eier, wir brauchen Eier!

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