Nach dem Sturm von Seattle

Ganz ironiefrei: Das Monday Night Football Game von Seattle gehört zu meinen Allzeitfavoriten. Weil es so gegen alle Erwartungen verlief. Weil es mitreißende Stimmung im vielleicht besten Stadion der NFL bot. Und weil es nach einem sensationellen, bizarren, einzigartigen Finish völlig zu Recht in die NFL-Annalen eingehen wird.

Die letzte Hail Mary vom wuseligen Rookie-Quarterback Russell Wilson – dem Mann, der einst von der North Carolina State University geflogen war, weil der Coach ihm nix mehr zugetraut hatte – in die EndZone war nur der Kulminationspunkt einer der spannendsten Footballspiele der letzten Jahre. Ganz ehrlich: Ich hatte es in Real Time nicht erkannt. Ich hatte noch dem Ball nachgeschaut und in mir waren gerade wieder die Bilder der unzähligen Bomben des Russell Wilson in die EndZone der Arizona Cardinals vor zwei Wochen präsent.

Plötzlich standen die beiden Refs am Knäuel, in dem sich zwei, drei, vier Athleten um ein Ei balgten. Beide Refs sichtlich unwohl. Einer zeigte Touchback an. Der andere Touchdown. Seahawks Win.

Fraglos: Die Schiedsrichter hätten spätestens nach der TV-Review auf Interception entscheiden sollen. Die überwiegende Mehrzahl der Wiederholungen ließ darauf schließen. Es wäre die bessere Entscheidung gewesen. Dass sie es nicht gemacht haben, lehrt auch eines: Der Videobeweis ist nicht das Allheilmittel.

Zumal die viel klarere Offensichtlichkeit, der Rammstoß des WR Golden Tate, nicht mehr geahndet werden durfte. Ein Ref war direkt daneben gestanden. Er hätte es sehen müssen. Die Refs hätten viel mehr in diesem Spiel sehen müssen, und sie haben Dinge gesehen, die nicht waren (gell, Mr. Shields?).

Solche Sachen passieren, wenn Menschen in Situationen geschmissen werden, denen sie nicht gewachsen sind. Ich bin noch jung. Aber ich habe es bereits zu oft gesehen – im Alltag.

Und wenn Referees aus der untersten Ebene des College Football, und aus der Indoor-Liga, und aus der Unterwäscheliga, plötzlich mit Weltklassesprintern und 500kg-Bombern und Staffords Weltklassegranaten mithalten sollen, und in der größten, teuersten, möglicherweise zuschauerträchtigsten Liga der Welt vor ausverkauften Hütten haarige Entscheidungen in Sekundenbruchteilen entscheiden müssen, kann ich die Fehler zu einem gewissen Grad nachvollziehen.

Ich habe intelligente Menschen in Prüfungssituationen Divisionen durch Null rechnen sehen. Leute machen unter Druck verrückte Dinge.

Deswegen habe ich auch überhaupt kein Verständnis für solche Schimpftiraden.

Nein, die Schiedsrichterleistungen sind gemessen an Hochulis Standard nicht gut. Weshalb ich mich darüber nicht übermäßig aufrege (obwohl sich auch die Lions nach der 44yds-Line-Aktion verarscht vorgekommen sein dürften)? Ich hatte es nicht anders erwartet. Ich hatte damit gerechnet, dass das eine oder andere Spiel entscheidend beeinflusst werden würde. Fehler passieren auch Ed Hochuli. Nicht in dieser Masse, aber sie passieren. Frag nach bei Bill Carrollo. Die nicht gepfiffenen Pass Interferences im AFC-Finale 2006/07 verfolgen mich bis heute. Trotzdem war dieses das beste NFL-Spiel, das ich je gesehen habe.

In Kürze werden die „alten“ Referees wieder da sein, vielleicht schon am Wochenende. Das Produkt „NFL“ wird dadurch fraglos aufgewertet. Uns wird ein Zufallselement mehr verloren gehen, aber es ist ein Zufallselement, auf das auch ich verzichten kann. Hochuli und Konsorten werden besser pfeifen, so wie wir es erwarten, und wir werden es nach nur drei Wochen Abstinenz endlich zu schätzen wissen und ihnen danken.


Die Seattle Seahawks sind indes mit 2-1 Siegen überraschend gut in die Saison gestartet, und sie sind kein Zufallsprodukt. Es war irgendwann Anfang Advent 2011, als ich nach Studium der Zahlen meine abgrundtiefe Skepsis gegen Pete Carroll und seine Mannschaft abzulegen begann.

Und dieses Spiel bewies wieder, warum: Die junge Seahawks-Defense ist fantastisch. Selten, ganz selten, wird eine Offense so derart brutal abgewürgt wie jene der Packers in Halbzeit eins. Und fast nie passiert es der effizientesten Pass-Offense der letzten Jahre. Was die Herren DE #91 Chris Clemons, DT #92 Brandon MeBane, DT #99 Alan Branch, DE #51 Bruce Irvin und Konsorten da veranstalteten, war groß. Ganz groß.

Dass sich die Seahawks vom einen oder anderen Laufspielzug der Packers überraschen lassen hatten, geschenkt. Allein die Tatsache, dass Green Bay in den Benson-Modus schaltete, war Kompliment genug. McCarthy schaltete in der zweiten Halbzeit in einen anderen Gang, ließ QB Aaron Rodgers dutzendweise schnelle Pässe nach 0.3 Sekunden in den Bereich 2yds um die Line of Scrimmage werfen, um dem Druck zu entfleuchen. Lange Pässe von Rodgers’ Seite habe ich vielleicht drei gezählt. Dafür scheinen 5.7 NY/A im Gamebook auf. Das ist kaum mehr als die halbe Höhe des Packers-Standards der letzten drei, vier Jahre.

Dass die Seahakws das Spiel ihrerseits nicht früher entscheiden konnten, lag unter anderem an ihrer eigenen anämischen Offense. RB Lynch kämpfte zwar wie ein Löwe, aber der Output war nicht wirklich da. QB Wilson wird in der Pocket bei andeutungsweise zuviel Druck zu schnell zappelig, scrambelt durch die Gegend und wirft den Ball dann immer noch viel zu spät. Der Rhythmus ist nicht da, selbst wenn zwischendurch der eine oder andere spektakuläre Big Play herausschaut.

Das war angesichts der Vorstellung der Seahawk-Defense dann auch der Grund, warum das Spiel überhaupt erst mit einem Spielzug entschieden werden musste, den niemand, der ihn gesehen hat, so schnell vergessen wird.

16 Kommentare zu “Nach dem Sturm von Seattle

  1. Ich fand das Spiel schrecklich… Komplett zerpfiffen… Andauernd nur Strafen… Kaum Punkte… Ravens vs. Patriots fand ich da deutlich unterhaltsamer… Mag aber auch daran liegen, dass bis jetzt alle Packers Spiele enttäuschend waren und ich mich als Packers Fan nach der letztjährigen Erfahrung immer auf viele Punkte (auf beiden Seiten) einstelle… 😉

  2. Ich fand das Spiel auch schlecht, aber das Finish hatte was 😉

    Im Ernst: Die Referee-Sache musste doch zur Farce führen. Das Ding haben sich Goodell und die Owner auf die Hüte zu schreiben. PR-Fiasko aller erster Güte.

    Ganz aus der Schusslinie würde ich die Backup Refs dann aber auch nicht nehmen. Die Drucksituation wurde hier schön geschildert und dass das Regelwerk sehr kompliziert ist, ist auch zu verstehen. ABER: Da waren schon viele Böcke auch dabei: Zu viele Timeouts, falsch platzierte Bälle, Ahnungslosigkeit bei Red Flags….

    Hoffentlich einigen sich die NFL und die NFLRA bald. 🙂

  3. Ich fand das Spiel auch sehr unterhaltsam, war nicht schön, aber war spannend, finde knappe Spiele am spannendsten, wenn eben über das gesamte Spiel wenig gepunktet wird.
    Ausserdem fand ichs toll wie oft Rodgers gesacked wurde 😀 (ja, bösartig, aber ich fands eben toll) Die Defense der Seahawks hat wirklich sehr gut gespielt.

  4. Ich glaube, dass sich die Diskussion auch weniger um die schlechten Backup Refs dreht, sondern mehr um Goodells Sturheit. Naja.. Die Amis sind eben nicht gewohnt, daß Spiele durch Referee Blackouts entschieden werden können, das müssens noch lernen 😉

    PS Sehr gute Analyse übrigens zu den Hawks. Die Defense ist wirklich beeindruckend, allein schon deswegen hat die NFC West dieses Jahr drei konkurrenzfähige Teams. Offensiv braucht Wilson viel Laufspiel Unterstützung und eine gute OL (die schwächelt). Die WR dazu hätten Sie.

    Go Vikes. Go Seahawks. (ok, die Packers tun mir diesmal leid…)

  5. also zum wetten macht die NFL aktuell riesig spass,absurde siege von teams die an normalen tagen untergehen gegen die topteams.hab jetzt nach week 3 1500 € verdient und bin für weitere schräge ergebnisse.

  6. Referees haben in der Vergangenheit auch Spiele entschieden.
    Alle Giants Fans, welche mind. seit 2002 Fans sind, können sich noch sehr gut an den 5. Januar 2003 erinnern. Nach dem letzten Snap, den falschen Spieler bestraft und Spieler des Gegeners nicht bestraft….
    Es gibt noch einige andere Beispiele. Packers gegen Vikings. Den Vikings wird ein eindeutiger TD nicht gegeben usw.

    Die „normalen“ Referees sind auch nicht perfekt. Nicht gegebene Holdings, Pass Interferences usw. wird es auch
    in Zukunft geben.

    Für mich ist entscheidend, dass die Spiele nicht weiter durch die Verzögerungen, Diskussionen der Referees, deutlich verlängert werden und keinen Spass gemacht hat, sich diese Spiele anzuschauen

  7. @g-men:

    Die “normalen” Referees sind auch nicht perfekt. Nicht gegebene Holdings, Pass Interferences usw. wird es auch
    in Zukunft geben.

    Exakt. Nur eben in geringerer Häufigkeit, und der geneigte Fan wird wieder mehr Vertrauen in die Entscheidungen der Refs haben.

    Das wirkt nämlich wie das Hauptproblem mit den Backup-Refs: Sie werden nicht für voll genommen (können sie auch gar nicht, ein Kreisligaschiri wird in der Champions League auch verarscht). Und auch ihre Entscheidungen werden nicht für voll genommen, weil niemand das Vertrauen hat, dass die Refs aus Überzeugung so entscheiden, wie sie entscheiden (was man, wie oben geschrieben, bei dem Niveauunterschied zwischen LFL und NFL auch nicht erwarten sollte).

    Ich muss im Übrigen ein weiteres Mal den Gamepass mit Condensed-Funktion loben. Der blendet die ewigen Flirts der Coaches mit den Refs weitestgehend aus. Nur die vielen Flaggen fliegen trotzdem.

  8. Was die Refs gegen Shields gepfiffen haben, war das er das Trikot von Rice in der Hand hatte. Von hinten war das einfacher zu sehen, als das „working through the back“.

    Seid dem nicht gegebenen TD von J.Ballard (Patriots@Giants) bin etwas vorsichtiger geworden mit den Fernsehbildern…

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