Abschluss der Sezierstunde-Serie wie immer mit dem amtierenden Superbowl-Champion, dem überzeugendsten NFL-Titelträger seit langer Zeit, den Seattle Seahawks. So sehr ich den Zufall in dieser Sportliga NFL liebe, so angenehm ist es, mal wieder einen überzeugenden, über allen stehenden Meister zu sehen. Es gab auch in den letzten Jahren immer wieder bockstarke Siegermannschaften, aber selten in der Kombination: Qualität, Siege, Superbowl-Blowout. Wie Seattle den bedauernswerten Endspielgegner Denver platt wie eine Scheibe Toastbrot machte, das hatte was Episches, von dem man sich auch drei Monate hernach nicht so recht lösen kann.
Den Weg der Seahawks in den letzten Jahren habe ich schon im Vorfeld der Superbowl 48 nachzuzeichnen versucht: Philosophie trifft Pragmatismus. Ein jahrelang fast wie zufällig aussehendes Hin- und Herverschieben von Spielern und Draftpicks als verzweifelter Versuch des Head Coaches / quasi-GMs Pete Carroll, seine Trainerkarriere zu retten, ergab in Seattle erst dann einen Sinn, als man in der dritten Runde des NFL-Drafts die QB-Granate Russell Wilson fand. Mit dem richtigen Quarterback im Line-Up fügten sich die entscheidenden Teile der Mannschaft plötzlich zusammen.
2011 hatte man eine fantastische, aber nahezu unbekannte Defense, die unbemerkt blieb, weil die Offense nix war. Ein Jahr später hatte man mit Frontmann Wilson dann auch die Feuerkraft im Angriff, scheiterte aber extrem unglücklich in den Playoffs. 2013 fügte sich alles zusammen: Dank der billigen jungen Superstars hatte man Geld genug um auf kritischen Positionen einen enorm breiten Kader zusammenzukaufen, der quasi von der Nummer 1 bis zur Nummer 4 im Depth-Chart keinen Qualitätsverlust hatte.
Der Titelsturm hatte noch ein weiteres Gutes: Carroll konnte seine Assistenten halten. Galten OffCoord Bevell und DefCoord Dan Quinn lange Zeit als potenzielle Headcoach-Kandidaten z.B. in Cleveland, verhinderte die lange Playoffserie ein Abwerben der Co-Trainer. Bis Anfang Februar warten heutzutage nur noch ganz wenige Mannschaften – ad hoc fielen mir nur noch die Browns ein, die vor zehn Jahren nach dem letzten Patriots-Titel in New Englands Stab wilderten.
So haben wir in Seattle in diesem Frühjahr fast unveränderte Rahmenbedingungen: Ein Head Coach Carroll, der es auch weiterhin allen Kritikern zeigen will. Einen Trainerstab, der beisammen blieb. Einen sehr jungen Mannschaftskern, der nur wenige Abgänge zu verzeichnen hat. Und höchstens ein paar Fragezeichen mit mittelfristigem Fokus.
Überblick 2013
Record 13-3 SB Engeö Spiele 5-3 Pythagorean 12.9 1 Power Ranking 0.760 1 Pass-Offense 6.8 8 Pass-Defense 5.1 1 Turnovers +20
Management
Salary Cap 2014.
Freilich sind aber selbst die Seahawks nicht ohne Schwachstellen. Die Offensive Line zum Beispiel war das ganze Jahr über ein Fragezeichen, und sie zwang QB Wilson zeitweise, noch stärker zu improvisieren als gewohnt. Nun ist Wilson kein QB, der sich irgendwelche Anflüge von Nervosität anmerken lässt, wenn der Druck von allen Seiten auf die Pocket hereinprasselt, aber 51 Sacks in 526 Drop-Backs sind dann doch eine Hausnummer. Fast 10% Sack-Quote kassieren nur wenige NFL-Spielmacher.
Es war für Seattles Offense egal, weil sie eh primär versucht, ein hartes, staubtrockenes Laufspiel aufzubauen. Weil sie auf die Qualität der Defense bauen kann. Und weil sie darauf bauen kann, dass Wilson genügend Plays – zu Fuß oder mit aufregenden tiefen Bomben – macht um die Spiele trotzdem locker zu gewinnen.
LT Russell Okung gilt als Anker der Offensive Line, aber er verpasste Teile der 2013er-Saison mit Verletzungen und war ganz generell in seiner Karriere nie einer der Spieler, auf die du für alle 1200 Offense-Snaps pro Jahr bauen konntest. Der zweite Klassemann der Offense Line ist C Max Unger. Aber alle anderen Stamm-Vorblocker bekamen heuer auf die Fresse: LG Carpenter wird als 1st-Round Bust beschimpft, RG McQuistan wurde ohne mit der Wimper zu zucken nach Cleveland abgeschoben, und RT Giacomini stabilisierte sich erst Ende der Saison, wurde dann aber auch in der Free-Agency fortgeschickt.
Es gilt als hausgemacht, dass Seattle einen seiner hohen Draftpicks für einen Offense Liner spendieren wird – entweder für einen Guard oder einen Tackle, vielleicht werden es sogar je eins und eins. Seattle pickt erst zum Ende der ersten Runde, aber das ist kein Problem, wenn haarklein die OT-Position als eine der bestbesetzten im Draft 2014 gilt.
Eine weitere potenzielle Stelle zum Nachbessern in der Offense wurde auf Wide Receiver aufgemacht, wo man Golden Tate nach Detroit ziehen ließ. Man konnte sich zwar letzte Woche sozusagen als verführtes Ostergeschenk die Dienst von Sidney Rice erneut sichern (man hatte sich Rices teuren Vertrags im Februar entledigt, bekam ihn nun für Minimalgehalt und Einjahresvertrag wieder), aber ein Rice allein macht keine Kadertiefe hinter dem Stamm-Trio, und sei das noch so gut.
Dieses Trio Baldwin / Kearse / Harvin hat seine Schwächen – der klassische Wideout, der die Manndeckungen im Alleingang schlägt, fehlt – aber es reicht eigentlich potenziell aus. Harvin ist dabei der Star, der einzige Slot-WR der Liga, der wirklich aus eigener Kraft dem Gegner seinen Willen aufzwingen kann, aber Harvin ist halt oft verletzt. Letzte Saison hatte man sogar Glück, dass sich Harvin schon in der Vorbereitung die Bänder riss und somit erst zum Saisonende wieder fit wurde und nicht mehr genug Plays hatte um sich nochmal ernsthaft für das Endspiel zu verletzten; vielleicht sollte er es noch einmal so machen, aber dann gehen den Hawks die Optionen aus.
Kearse gilt als echter Kämpfer. Er hat schon in Seattle studiert (University of Washington) und sich als ungedrafteter Rookie durchgesetzt. Seine absolute Stärke ist das Blockspiel, ungewöhnlich für einen Receiver. Baldwin kann alles ein bisschen und nix hervorragend – das reicht zu einer sehr, sehr brauchbaren Nummer 2, aber wie gesagt: Sollte Harvin ausfallen, könnte das diesem Passspiel schon einen Knacks geben. Rice ist schließlich auch bis auf sein Ausreißer-Jahr 2009 in Minnesota auch bestenfalls ein mittelklassiger Mann.
Soll ich erwähnen, dass auch Wide Receiver als außerordentlich tief besetzte Position im Draft 2004 gilt?
Tight Ends: Check. Miller ist zwar kein Star, aber für 2-3 Catches pro Spiel und den einen oder anderen tiefen Ball immer zu haben. Der junge Luke Willson hatte zwar nur einen bestenfalls soliden Einstand in der Liga, aber er wird es erstmal tun.
Running Backs: Check. Marshawn Lynch ist einer der ganz wenigen Runningbacks der NFL 2014, um die du wirklich versuchen kannst, deine Offense zu bauen. Auch ein Lynch kann zwar die Offense nicht allein tragen, aber allein Lynchs Power reichen aus, um für Seattle die Balance im PlayCalling zu halten. Das kannst du sonst heute nur noch von einem Peterson in Minnesota oder einem Doug Martin in Tampa behaupten – und da drücken wir schon bei Letzterem ein Auge zu. Lynch ist zwar nicht außerordentlich effizient (41.6% Success-Rate ist Liga-Durchschnitt / 4.2yds/Carry sind auch nicht weltbewegend), aber er zwingt mit seiner Konstanz jeden Gegner, ein Auge auf das Laufspielzu halten. 1545yds, 16 Rush-TDs, und 37 Catches für 319yds und 3 TD-Catches sind Zeugnis für einen kompletten Spieler.
Sein Backup Turbin hatte zuletzt ein eher schwaches Jahr. Aber in der Hinterhand wartet noch RB Christine Michael, vor einem Jahr gedraftet als einer der herausragenden Zukunftstalente auf der RB-Position. Michael war letztes Jahr einer der großen Favoriten von Mike Mayock im Draftprozess, und bei Texas A&M am College ein extrem auffälliger, explosiver Back.
In der Defense kamen einige Leistungsträger für die Kadertiefe abhanden, aber die für die Spielidee zentralen Spieler sind alle noch da: Die Achse der Legion ist Boom ist noch komplett, der großartige DT MeBane ist noch da, LB Bobby Wagner ist noch da. Sogar die beiden Star-DE Michael Bennett und Cliff Avril, die besten und wichtigsten Spieler beim Superbowl-Blowout, bleiben in Seattle. Bennett konnte für einen nicht billigen, aber auch nicht überteuerten Vertrag gehalten werden. Er ist vielleicht mit nur rund 600 Snaps/Jahr kein klassischer Stammspieler, aber als Rotationsspieler ist er unersätzlich, und in den Snaps, in denen er spielt, gibt es kaum vielseitigere Leute.
Aus der Defense Line wurden nur DE Red Bryant und DE Clemons ziehen gelassen; beide gingen zum ehemaligen DefCoord der Hawks, Gus Bradley, nach Jacksonville. Dafür konnte Rotations-Tackle McDaniel (530 Snaps letztes Jahr) gehalten werden. Damit ist die Front-Four der Seahawks aktuell wie folgt besetzt:
- DT: Brandon Mebane, Tony McDaniel, Jordan Hill, Jesse Williams
- DE/LEO: Michael Bennett, Cliff Avril, Bruce Irvin
Es braucht nicht zwingend eine Neuverpflichtung, aber man darf trotzdem darauf tippen, dass der Stab der Seahawks versuchen wird, in den mittleren bis späten Runden (Seattle hat allerdings keinen 3rd-Rounder) einen neuen Defensive Liner zu holen, der langsam eingelernt werden kann.
Ein Irvin kann auch als Outside-Linebacker spielen, gilt dort jedoch als Sicherheitsrisiko, wenn der Gegner überraschend mit einem Laufspielzug daher kommt. Selten, dass Spieler deplatzierter aussehen wie ein Irvin in der Run-Defense, aber dafür wurde er ja auch nicht geholt. Die anderen Linebacker sind alle komplette Jungs: Wagner, der gerne unterschätzte K.J. Wright, und auch der offizielle Superbowl-MVP Malcolm Smith hat eine Wandlung hin zu einem gebräuchlichen three down Verteidiger gemacht.
Die Achse der Legion-of-Boom – CB Sherman, FS Thomas, SS Chancellor – steht und muss nicht weiter diskutiert werden. Das vierte Gründungsmitglied Browner wurde nach New England ziehen gelassen, aber der verpasste eh die meiste Zeit mit Drogenproblemen. Browners Ersatzmann 2013, CB Thurmond, musste auch ziehen gelassen werden, sodass mittlerweile der CB Byron Maxwell die legendäre Seahawks-Secondary vervollständigt.
Maxwell und Slot-CB Jeremy Lane machten aber beide ihre Jobs im letzten Jahr sehr ordentlich, und man kann ihnen durchaus vertrauen. Brutal schwierig ist ihre Arbeit auch nicht: Die meisten Top-Receiver beim Gegner werden eh durch Sherman und der Scheming weggenommen, und wenn der Passrush wie gewohnt zündet, haben sie auch lange genug Zeit um ihre Gegenspieler halbwegs abzudecken. Zu schauen ist höchstens, ob und wie die Jungspunde SS Jeron Johnson (einst Boise State) und CB Tharold Simon (einst Problemkind bei LSU) besser eingebunden werden.
Wir haben also in Summe Needs in der Offensive Line (vermutlich Guard und Tackle), Spots für verbesserte Tiefe auf Wide Receiver, Defensive Line und vielleicht noch im Defensive Backfield, aber das sind Luxusprobleme vergleichen mit auch unmittelbaren Konkurrenten.
Fazit: Der Titelverteidiger ist schon vor dem Draft gut aufgestellt für die Titelverteidigung. Die sollte man zwar nicht erwarten – in einer NFL solltest du nie etwas „erwarten“ – aber der Kader ist schon wieder eine der komplettesten von allen.
In Offense und Defense greifen so fassungslos viele Rädchen ineinander, dass er bei Seattle gar nicht den „einen“ Mega-Spieler braucht, um den sich alles dreht. Die Offense ist ums Laufspiel gebaut, aber das Laufspiel hat nur deswegen eine Chance, weil der Quarterback ein Goldstück ist. Umgekehrt funktioniert dieser Quarterback vermutlich auch deswegen so fassungslos gut, weil er die Unterstützung von einem brachialen Run-Game hat.
Ähnlich die Defense: Die Secondary wäre vermutlich auch ohne Passrush in der Lage, jeden Gegner unter 6.0 NY/A zu halten, aber erst in Kombination mit dem Passrush ist sie total dominant. Deckt der Cornerback den Gegner 0.3 Sekunden länger als der durchschnittliche Corner, hat der Passrush 0.3sek mehr Zeit durchzubrechen. Bricht dieser Passrush dann noch aus eigener Kraft 0.2sek schneller durch als der durchschnittliche Passrush, hast du die dominanteste Defense seit mindestens zehn Jahren beisammen.
Es ist diese ausgeglichene, mannschaftliche Geschlossenheit, die mich bei allen famosen Einzelkönnern wie Wilson oder Earl Thomas seit gut zwei Jahren so fasziniert die Seahawks beobachten lässt. Es ist dieser Mannschaftsgedanke, der dazu führt, dass diese Mannschaft nicht einmal den Titel gebraucht hätte um mich für sie zu begeistern. Selten, sehr selten, dass solche Naturgewalten so perfekt ineinander verschmelzen – und schon allein deshalb ist auf die Seattle Seahawks schon wieder zu achten.